Buchrezension: »Wendepunkt«

Vorlegelesen für alle, die an den Ideen der liberalen, österreichischen Oppositionspolitikerin Beate Meinl-Reisinger interessiert sind.

»Wendepunkt«
Bild: Istock.com/Zhang Meng.

2020 erschien »Ich seh das so«, die autobiographisch gefärbte Gegenwartseinschätzung von Heide Schmidt, der Grande Dame der Liberalen in Österreich. Der Untertitel stellte damals klar, worum es der mittlerweile 75-Jährigen ging: »Warum Freiheit, Feminismus und Demokratie nicht verhandelbar sind«. Demgegenüber klingt der Buchtitel von Beate Meinl-Reisinger, der aktuellen Spitzenrepräsentantin des bürgerlichen Liberalismus im Land um Wien, doch etwas schwammig: »Wendepunkt. Wie wir das wieder hinkriegen«. Wobei das Umkämpfte in beiden Büchern letztlich das Gleiche ist: Es geht um Freiheit, Demokratie, perspektivisch um wirtschaftliche und ökologische Fairness gegenüber jungen und künftigen Generationen. Wobei die studierte Rechtswissenschaftlerin Meinl-Reisinger, Jahrgang 1978, seit 2018 Parteivorsitzende der Neos und mittlerweile dreifache Mutter, ihr Buch in zwei Teile gliedert, welche letztlich Titel und Untertitel entsprechen: Teil 1 ist eine Analyse des Status quo, der Darstellung der problematischen Gemengelage und dem »Wendepunkt« gewidmet. Darin findet sich nichts Neues für alle, die das politische Geschehen aktiv und durch die österreichische Brille beobachten. Spannender wird Teil 2, der »Wie wir das wieder hinkriegen«umreißt und konkrete Problemlösungsansätze vorstellt. Dabei vermittelt Meinl-Reisinger eine unaufgeregte Dringlichkeit (»Viel Zeit haben wir nicht.«). Die wahrscheinlich spannendste Idee – ein Grunderbe für alle 18-Jährigen, das zweckgewidmet für die eigene Ausbildung, den Erwerb von Immobilien oder eine Unternehmensgründung sein soll und im Falle einer späteren Erbschaft zurückgezahlt werden muss – wurde bereits unmittelbar nach Erscheinen des Buchs diskutiert. Wobei auch erörtert wurde, ob diese Art der Umverteilung eigentlich mit liberalen Ideen vereinbar ist. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass Meinl-Reisinger die Idee im bevorstehenden Wahlkampf (Österreich wählt seinen Nationalrat am 29. September) wieder zu platzieren versucht.
Auch wenn die Halbwertszeit von Publikationen aktiver PolitikerInnen erfahrungsgemäß eine überschaubare ist: Es gibt schlechtere Ideen, als die eigene Weltsicht samt konkreten Problemlösungsansätzen in Buchform auszubreiten. Gewissermaßen als langsamen, hintergründigen und betont seriösen Gegenpol zur kurzatmigen Kommunikation auf Instagram, TikTok und X.
Das Buch ist kein großer Wurf, aber brauchbare Bekenntnis- und wahrscheinlich auch Erbauungsprosa für diejenigen, die sich von einzelnen Ideen und Ansätzen der Neos angesprochen fühlen und sich das große Ganze erschließen wollen. All das wirkt konstruktiv, vernunftbasiert und konsistent für eine auf Fairness bedachte, liberale Mitte-rechts-Partei. Und selbst wer Meinl-Reisingers Partei auch nach Lektüre dieses Buchs womöglich nicht als erste Wahl in Betracht zieht, wird sich wahrscheinlich quer über die Parteienlandschaft verteilt mehr PolitikerInnen vom Intellekt und Habitus einer Beate Meinl-Reisinger wünschen. 

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BIORAMA #91

Dieser Artikel ist im BIORAMA #91 erschienen

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