Fräulein Brehms Gespür für Natur
Mitten in Berlin erzählt ein kleines Theater von bedrohten Tieren. Wie geht das? Ein Bericht über ein ungewöhnliches Schauspielprojekt und warum sich scheinbare Gegensätze wie Stadt und Natur gut ergänzen.
»Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis« – das Motto des Natur-Parks Schöneberger Südgelände in Berlin könnte auch das Motto eines einzigartigen Theaterprojekts sein, das im Park ansässig ist: Fräulein Brehm. Das Fräulein – eine von insgesamt sechs Schauspielerinnen, die sich abwechseln – erzählt von seltenen respektive unbekannten respektive missverstandenen europäischen Tierarten. Aktuell von Wolf, Wildkatze, Luchs, Bär, Wildbiene und Regenwurm. Regenwurm? Ja, Regenwurm. Barbara Geiger strahlt. Das Ur-Fräulein ist besonders stolz darauf, nicht nur Stücke über Charisma-Tiere anzubieten. Das wäre doch viel zu einfach. »Den Wolf könnte ich rauf und runter spielen«, so die aus Bayern stammende Theatermacherin. Wenn der Regenwurm auf dem Programm steht, sind die Reihen in ihrem kleinen Theater schon deutlich lichter. Dafür lieben Fachwissenschaftler ihr Regenwurm-Stück. Sie hat es auch schon auf internationalen Fachkongressen gespielt.
Von Brehms Tierleben inspiriert
Barbara Geiger ist alles in einer Person: Schauspielerin, Regisseurin, Requisiteurin … viel Energie braucht es dazu. Energie, die Barbara Geiger zweifellos hat. Die blonde Fourtysomething-Frau stellt einige der ausgestopften Tiere vor, die ihren Theaterraum in der alten Lokhalle im Natur-Park Schöneberger Südgelände schmücken. »Das ist der Hans«, so Barbara Geiger über ein Faultier, das sie wie alle anderen Exponate von der Passauer Universität übernommen hat.
Die Uni wollte »ausmisten«, wie Barbara Geiger von ihrer Schwester in Bayern erfuhr. »Viel zu schade für den Müll«, befand sie. Schließlich waren die Tiere noch sehr ansehnlich, obwohl sie einige Jahre auf den ausgestopften Buckeln hatten. Das hatten die alten Werke des deutschen Zoologen und Schriftstellers Alfred Brehm schließlich auch – und doch konnten die exakten Beschreibungen Brehms Barbara Geiger faszinieren und zur Gründung eines eigenen Theaterprojekts inspirieren. 2008 war das. Seitdem entwickelt Geiger in konstantem Austausch mit Biologen immer neue Stücke über gefährdete europäische Tierarten.
Kinder und Fachleute
Geeignet sind die Stücke für alle interessierten Menschen ab acht Jahren. Kinder, aber auch Fachbiologen. Auch die wollen schließlich ihren Forschungsgegenstand vergnüglich präsentiert sehen. Vorwissen steht dem Vergnügen dabei nicht im Weg, denn Barbara Geiger und ihre Kolleginnen bemühen sich, stets auf dem neuesten biologischen Stand der Dinge zu sein. Eigentlich macht Barbara Geiger Umweltbildung vom Feinsten, aber sie verbirgt den Zeigefinger gekonnt. Aktuell entwickelt sie in Kooperation mit dem Meeresmuseum in Stralsund ein neues Stück, diesmal über den Schweinswal. »Kinder sind intelligent, man sollte sie nicht unterschätzen«, ist Barbara Geiger überzeugt. Natürlich passt sie trotzdem die Art, wie sie über das jeweilige Tier erzählt, dem Publikum an. »Wenn viele Kinder da sind, spiele ich anders als vor einem rein oder vorwiegend erwachsenen Publikum«, erklärt sie. Kinder lieben es zum Beispiel, Knochen, Zähne oder Fell anzufassen und so zu begreifen. Bei Tournee-Auftritten ist es meist klar, wie sich das Publikum zusammensetzen wird, so lässt sich besser planen. In der fixen Spielstätte in Berlin sind Geiger und ihre Kolleginnen in ihrer Spielweise einfach flexibel. Schließlich gehört es zur Schauspielkunst, sich schnell auf das jeweilige Publikum einstellen zu können.
Kunst und Natur, vereint in einem alten Bahnhof
Der Natur-Park Schöneberger Südgelände mitten in Berlin – die feste Spielstätte von Fräulein Brehm – wäre einen eigenen Artikel wert, so sehenswert und ungewöhnlich ist er. 1954 hörte das Gelände auf, ein aktiver Rangierbahnhof zu sein. Die Natur nahm von Schienen und Gleiskörpern Besitz, viele seltene Tiere und Pflanzen siedelten sich an. Die Anwohner erkannten, welch kostbares Stück Wildnis mitten in der Stadt entstanden war und bewirkten, dass der ehemalige Rangierbahnhof zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Die Brache lebt, aber ihre Vergangenheit als Rangierbahnhof blieb deutlich erkennbar. Natur und Kultur bilden Seite an Seite ein Stück Stadtgeschichte. Heute ist das Schöneberger Südgelände längst zum Park erklärt worden und ein allseits beliebtes Nahausflugsziel, das weitgehend barrierefrei ist, also von Rollstuhl- und Handbikefahrern ebenso genossen werden kann wie von Familien mit Kinderwägen. Betreut wird der Natur-Park von der stadteigenen Grün Berlin GmbH, die viele der Parks in der deutschen Hauptstadt managt. Auch Grafitti – in Berlin allgegenwärtig – findet man auf eigens dafür freigegeben Wänden. Das Park-Management versucht so, die Aneignung des Geländes durch Sprayer zu steuern. Angeeignet haben sich den Park vor allem Künstler: In den Sommermonaten ist außer Fräulein Brehm noch eine zweite Schauspieltruppe vor Ort zu Gast. Die Shakespeare Company Berlin spielt hier die bekannten Stücke des englischen Meisters.
Fräulein Brehm residieren übrigens ganzjährig in der alten Lokhalle. Das kleine Theater wird im Winter selbstverständlich beheizt. Gespielt wird immer am Wochenende, jeden Samstag und Sonntag um 14 und 16 Uhr. Welche Tiere gerade im Mittelpunkt stehen, erfährt man auf der Website. Die Eintrittspreise sind dabei sozial gestaffelt. Auch hier sorgt Fräulein Brehm für klare Verhältnisse, schließlich ist seit George Orwell bekannt, dass zwar alle Tiere gleich sind, aber doch einige gleicher als die anderen. Vor allem ökonomisch. Alle Besucher sollten also ehrlicherweise zahlen, was sie sich leisten können. Nach dem EU-Durchschnittseinkommen wären das 11,90 Euro. Für Schüler, Studenten und Lehrlinge 4,90 Euro. Gerne gehen Barbara Geiger und ihre Kolleginnen auf Anfrage auch auf Tournee. Dabei waren sie schon zu Gast in Frankreich, Großbritannien und Italien, wofür einige der Stücke auch übersetzt wurden.
»Es ging um Amöben. Und es war spannend«
BIORAMA: Frau Geiger, wie sind Sie zum Fräulein Brehm geworden?
Barbara Geiger: In einer schlaflosen Nacht fiel mir »Brehms Tierleben« in die Hände. Es war gerade nichts anders zu lesen da, reiner Zufall. Es ging um Amöben. Überraschenderweise fand ich das grandios, spannend. Da dachte ich mir, wenn es schon so interessant ist, von Amöben zu lesen, wie spannend müssen dann erst andere Tiere sein, Säugetiere etwa? Wir Normalsterblichen wissen einfach wenig über Tiere. Das ging mir so, das geht auch dem Publikum so. Daraus entstand die Idee, sich mit verschiedenen Tierarten auf der Bühne zu beschäftigen. Immer auf dem Stand des heutigen Wissens, immer innerhalb einer knappen Stunde. Wir holen also Wissenschaftler mit an Bord.
Welche Rolle spielt das Verhältnis Mensch – Tier?
Eine ganz wichtige. Die Frage ist, warum machen wir es manchen Tieren so schwer, zu leben?
Was möchten Sie vermitteln?
Vor allem Wissen. Dabei ist Unterhaltung ganz wichtig, aber auch die wissenschaftlichen Fakten. Wir müssen neutral bleiben. Lobbyarbeit für die einzelnen Tierarten müssen die NGOs machen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Etwa möchte ich Verständnis für die Mühen der Schäfer schaffen. Die haben’s nicht so leicht mit den Wölfen.
Sie trennen nicht zwischen größeren Kindern und einem erwachsenen Publikum. Wie geht das?
Kinder sind intelligent. Sie verstehen viel und wollen dazugehören. Lateinische Sauriernamen merken sie sich ja auch. Ich empfehle meine Stücke ab acht Jahren. Wichtig ist, dass Eltern mit Kindern es versuchen und notfalls wieder gehen. Daher zahlen auch alle nach dem Stück, damit sich niemand ärgert. Ich möchte ja, dass die Gäste wiederkommen. In Schulen spielen wir auch, aber dann sind die Stücke viel interaktiver und dauern länger, weil mehr Fragen beantwortet werden.