Der Schädel des Bären
»Don’t panic, don’t run, don’t approach«. Als Laie auf den Spuren des europäischen Braunbären.Ein Feldforschungs-Bericht aus der slowakischen Hohen Tatra.
Wir kehren jetzt besser um«, dreht sich Miloš plötzlich zu mir um. Noch bevor ich mein »Warum?« herausbringe, kommt er mir zuvor: »Er ist nahe, sehr nahe.« Scheiße, denke ich – und drehe mich um, um auch die drei hinter mir zu stoppen. Eine Geste mit der Hand wie man sie von den Lawinenschutzschildern kennt reicht aus. »We better turn around«, sage ich betont ruhig und leise. Niemand fragt nach, alle wissen, dass Miloš weiß, was er tut und dass ich bloß übersetze. Er deutet mir noch, über den Felsen zu lugen. Dahinter sehe ich eine Höhle, tief in den Hang hinein. Davor: gefrorene Spuren im Matsch.
Alles klar, Rückzug! Dass dieser beschwerlich ist und uns wieder bergauf führt und dabei einen großräumigen Umweg bedeutet, darüber beklagt sich keiner als Miloš erzählt, dass er vor ein paar Jahren in einem ganz ähnlichen Habitat weiter nördlich von einer Bärin attackiert wurde. Und vermutlich nur überlebt hat, weil er durch einen Sturz vom Felsen außer Reichweite gelangte – sich dabei allerdings den Schädel, beide Beine und beide Arme gebrochen hat. Er zeigt uns eine große Narbe. Da nimmt man ein paar Kilometer Umweg gerne in Kauf.
Es ist Anfang Februar und viel zu warm für diese Jahreszeit. Wir sind im slowakischen Vel‘ká Fatra Nationalpark unterwegs, um die Population der großen Räuber Luchs, Wolf und Bär zu erfassen. Die Jahreszeit für das insgesamt fünf Winter erfassende Forschungsprojekt hat Biosphere Expeditions, ein gemeinnütziger Veranstalter, bewusst gewählt; weil Spuren im Schnee ideal dafür sind, um Tiere nachzuweisen und auch Kot, Urin und die Kadaver ihrer Beutetiere gut sichtbare Indikatoren. Nur blöd, dass heuer kaum Schnee liegt. Dafür hat es uns die Witterung allerdings erlaubt, in Seitentäler von Seitentälern vorzudringen, die sonst im Winter nur mit dem Helikopter zu erreichen sind. Nicht einmal Waldarbeiter trifft man hier. Auf den abschüssigen Wäldern mit bis zu 40 Grad Gefälle liegen hier normalerweise zwei, drei Meter Schnee. Die darunter eingeschneiten Höhlen sind ein idealer Ort für Bärinnen, ihre Jungen auf die Welt zu bringen. Die wehrlosen Neugeborenen sind knapp 30 Zentimeter groß – und die Mütter dementsprechend wehrhaft. Meiden Bären für gewöhnlich jeden Kontakt mit dem Menschen, scheuen sie wenn sie sich oder ihre Jungen bedroht sehen, keine Konfrontation. Die Narben am Schädel von Miloš sind ein eindrucksvolles Zeugnis dafür.
In früheren Zeiten wäre einer wie Miloš Majda vielleicht ein Waldläufer gewesen, hätte Tieren nachgestellt und mit Fellen gehandelt. Heute, da fast alle Wildtiere bedroht sind, lebt er mit und für sie. Er ist Naturschützer, Wanderführer und liest den Wald – Augen wie ein Habicht – wie andere in Büchern. In zwei Metern Höhe entdeckt er an einem massiven Stamm Biss- und Kratzspuren eines Bären, tiefe Narben im Holz, an dem ein aufgerichtetes Tier seine Kraft ausgelassen hat. Am Hang gegenüber, auf der Sonnenseite, erzählt er, brüten im Frühjahr die Birkhühner, hier hat ein Fuchs markiert, dort ein Luchs den Forstweg als Trampelpfad genützt.
Sind weitläufige Gebiete nach Spuren abzusuchen oder abgelegen Fotofallen zu kontrollieren, dann macht sich Miloš auch einmal alleine auf in den Wald. Neben mir sind heute allerdings auch noch der wolfsbegeisterte Krankenpfleger Sonny aus Luxemburg, der schottische Hobbyfotograf, Arzt und Hundenarr Nick und die holländische Schülerin Noor, die später Biologie studieren möchte und mit ihrem Vater an der Expedition teilnimmt, mit ihm unterwegs. Drei andere Gruppen durchstreifen an anderen Stellen den Nationalpark. Wir wurden gewarnt: Wer mit Miloš unterwegs ist, sollte gut zu Fuß sein.
20 bis 30 Bären leben hier normalerweise auf 200 Quadratkilometern, schätzt unser Guide. Jetzt, im Winter, haben sich hierher drei bis viermal so viele Tiere in die abgelegenen Täler zurückgezogen. »Nur weil wir noch keinen Bären gesehen haben, bedeutet nicht, dass uns die Bären nicht beobachten«, meint Miloš. Es ist warm, viele haben ihre Winterruhe unterbrochen und streifen umher. Auch Luchs und Wolf sind dieser Tage viel auf den Beinen. Die Paarungszeit der Wölfe geht gerade zu Ende, jene der Luchse beginnt gerade. Weil es tagsüber taut, belegen das zahlreiche Spuren. Auffällig, dass der Teenager Noor, seit wir vor der Höhle kehrt gemacht haben, immer wieder pfeift, summt oder singt. Sie möchte keinen Bären überraschen. Besser, das Tier bemerkt uns rechtzeitig und trollt sich. Die Gebote, die uns die Expeditionsleiter am ersten Abend eingetrichtert haben, hat sie verinnerlicht. Wenn du einem Bären begegnest: »Don‘t panic, don‘t run, don‘t approach«.
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Bären sichten und aus 30, 35 Metern Entfernung fotografieren – das wird eine der anderen Expeditions-Gruppen am nächsten Tag. »Näher hätte er nicht mehr kommen brauchen«, erzählt die Vorarlbergerin Helene am Abend darauf. »Zum Glück haben uns die Bären rasch bemerkt«. Was Noor, Sonny, Nick, Miloš und ich an diesem Tag noch entdecken, ist ein blanker Schädel. Dachs ist es keiner, jedenfalls ein Raubtiergebiß, ein Jungtier. Wir packen ihn ein. Später wollen wir uns aus den Bestimmungsbüchern im Kreis der Anderen Gewissheit holen. Während die einen ihre Aufzeichnungen ergänzen, gps-Sender aufladen, sich aufwärmen, ihre Kenntnisse in Fährtenkunde vertiefen und die Gerätschaft warten, beschert uns dieser Schädel noch einen langen Abend im Geiste von Shakespeares Hamlet. War das ein junger Luchs oder ein junger Bär, das ist die Frage.
Die nächsten gemeinnützigen Expeditionen zu Luchs, Wolf und Bär finden von 1. bis 7. Februar und vom 8. bis 14. Februar 2015 in der Slowakei statt.