Bio in the Making
Markus Fadl vom Bioverband Naturland über Neuigkeiten im Bioangebot, Standards und Innovationen, die ihn nicht interessieren.
Bio boomt, heißt es. Von geschätzt 17 Prozent Umsatzplus für Biolebensmittel ging die deutsche Ernährungs- und Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Jänner für das vergangene Jahr 2020 aus. Was bedeutet das für die Biolandwirtschaftsverbände? Naturland ist einer der großen in Deutschland. Sein Pressesprecher Markus Fadl erläutert im Gespräch, was den 1982 gegründeten Verband derzeit beschäftigt – und was weniger.
BIORAMA: Wie viele Produkte von wie vielen ProduzentInnen zertifiziert Naturland heute (2020) – und wie viele waren es vor zehn Jahren?
Markus Fadl: Anfang 2011 waren es international etwas mehr als 50.000 Bäuerinnen und Bauern, heute sind es über 100.000, mit denen wir in etwa 60 Staaten zusammenarbeiten. Der Großteil davon sind KleinproduzentInnen in Kooperativen in Afrika und Lateinamerika.
In unserem Heimatmarkt Deutschland waren es im Januar 2011 2400, heute sind es 4200. Wir erleben heuer eine Fortsetzung des langfristigen Wachstums, das wir seit Jahren, etwa seit 2015, erleben. Daran sieht man, dass Bio kontinuierlich wächst.
Naturland setzt unter den Biosiegeln auf dem deutschsprachigen Markt Standards. Mit wem vergleichen Sie sich national und international?
Wir vergleichen uns nicht, wir kooperieren. So selbstbewusst sind wir. Unsere wichtigsten PartnerInnen in Deutschland zur Voranbringung des Ökolandbaus in politischer Arbeit sind Bioland und Demeter. Dass wir mitunter am Markt und in der Mitgliederwerbung in Konkurrenz stehen, gehört dazu. Außerhalb Deutschlands kooperieren wir mit anderen Verbänden, etwa Bio Suisse, aber hier ist die Kooperation eine andere, weil wir außerhalb Deutschlands und Österreichs kaum mit unserem eigenen Siegel am Markt vertreten sind.
»Das Wichtigste ist, dass immer klar ist, was ein Biolebensmittel ist«, – Markus Fadl, Naturland
Verändern sich Vertrauen und Interesse der KonsumentInnen gegenüber der Komplexität von Biozertifikaten?
Hier gibt es immer eine Doppelbewegung. Mit dem Wachstum von Bio wächst auch die Notwendigkeit für Information. Und KonsumentInnen wollen sich an vertrauenswürdigen Siegeln wie Naturland orientieren. Gleichzeitig fragen auch viele nach und wollen es genauer wissen. Und es ist wichtig zuzugeben: Die Diskussion um Bio ist nicht am Ende und wird sich weiterentwickeln. Es gilt hier, sich den Diskussionen zu stellen und Verständnis dafür zu wecken, dass diese Entwicklung nicht nur notwendig ist, sondern auch Zeit braucht.
Wünscht sich ein Verband weitergehende gesetzliche Bioregelungen von der EU? Eine Weiterentwicklung des »Mindeststandards«?
Ich verwende die Bezeichnung Mindeststandard für die EU-Bioverordnung eigentlich nicht mehr. Sie ist der höchste gesetzliche Standard für Landwirtschaft und Lebensmittel, den wir haben, und das Fundament, auf dem wir stehen. Damit das Fundament stimmt, haben wir Verbände viel Energie in die Reform der EU-Ökoverordnung gesteckt. Und wir tun das noch, damit die neue Verordnung 2022 hoffentlich in Kraft treten kann.
Die Ökoverbände gehen darüber hinaus, bei den Sozialrichtlinien und bei den Tierwohlkontrollen etwa. Aber wir sind froh über das Fundament. Außerdem geht es darum, dass wir die gesamte, also nicht nur die Bio-, sondern auch die konventionelle Landwirtschaft ökologisieren und auf ein höheres Niveau heben.
Sie verfügen ja nicht nur über ein Siegel, sondern zwei. Ist Naturland Fair einzigartig?
Wir bezeichnen uns als den ökosozialen Verband. Wir haben im Jahr 2005 Sozialkriterien in unseren Katalog an Richtlinien aufgenommen, die für alle produzierenden und verarbeitenden Betriebe gelten. Naturland Fair ist deren Weiterentwicklung als Zusatzzertifizierung, bei der die Bedingungen des fairen Handels auch für heimische Bäuerinnen und Bauern gelten. Dadurch gibt es nicht nur faire Schokolade oder Bananen, sondern auch faire Milch.
Wie wichtig die soziale Dimension von Nachhaltigkeit ist, zeigt sich an den hitzig geführten Debatten rund um ein Lieferkettengesetz, wie sie derzeit in Deutschland und auf europäischer Ebene geführt werden. Die Schweiz ist kurz davor, ein solches zu verabschieden. Das, was ein solches Gesetz an menschen- und arbeitsrechtlichen Standards bringen würde, hat man mit einer Naturland-Fair-Zertifizierung schon erledigt. Das gibt es in dieser Form bei keinem anderen Biozertifikat.
Werden die Kriterien, die ein Bioprodukt ausmachen, durch die wachsende Palette zertifizierbarer Produkte undurchsichtiger für die KonsumentInnen?
Wenn Bio ein Wort wird, das auf immer mehr Produkten erscheint, die mit Lebensmitteln nichts mehr zu tun haben, dann profitieren wir davon, dass wir für Lebensmittel durch die EU-Ökoverordnung ein klares Fundament haben. Die Zertifizierung von Landwirtschaftsprodukten außerhalb des Lebensmittelbereichs wie bei Textilien oder Hanf (für beides hat Naturland Zertifizierungen) ist begrüßenswert und beeinflusst unseren ureigensten Bereich Lebensmittel nicht negativ. Das Wichtigste ist, dass immer klar ist, was ein Biolebensmittel ist. Darüber hinaus gibt es sie natürlich: Begriffe wie Biosprit, die mehr als ärgerlich sind.
Was halten Sie denn davon, dass der Begriff »Bio« in der EU nicht geschützt ist, sobald wir den Lebensmittelbereich verlassen?
Es gibt Grenzen dessen, was man schützen kann. Wir können uns glücklich schätzen, dass Bio im Lebensmittelbereich so gut geschützt ist.
»Da werden hochwertige Proteine aus Foodwaste gemacht. Das ist die alte Idee des ökologischen Kreislaufs in neuem Gewand«, – Markus Fadl, Naturland
Welche Veränderungen erwarten uns im Biolebensmittelangebot demnächst?
Ganz aktuell hat unsere Delegation beschlossen, das Kükentöten mit Ende des Jahres komplett zu beenden. Und zwar ohne In-Ovo-Selektion. Das heißt, dass auch der Bruder jeder Henne, die ein Naturland-Ei gelegt hat, nach ökologischen Kriterien aufgezogen wird.
Wachsen eigentlich alle Bioinsekten in einer Fabrik in laborähnlicher Umgebung auf?
Mit der landläufigen Vorstellung von Landwirtschaft hat Insektenzucht sicher wenig zu tun. Sie brauchen weder Äcker noch Weiden, sondern nur einen Raum, in dem Sie die Insekten und Maden auf einem Substrat aus Biolebensmittelresten züchten. Da werden hochwertige Proteine aus Foodwaste gemacht. Das ist die alte Idee des ökologischen Kreislaufs in neuem Gewand.
Seit Kurzem gibt es einen ersten deutschen Naturland-zertifizierten Betrieb, der Insekten produziert. Ein junges Unternehmen in Bremen, das aus Grillen und Gewürzen Snacks für den menschlichen Verzehr macht.
Perspektivisch ist die Bioinsektenzucht vor allem als Futtermittel-Proteinquelle relevant?
Als wir die Richtlinie gemacht haben, hatten wir die Aquakultur im Blick (D. h. Unternehmen, die Insekten als Proteinquelle für Fischfutter, herstellen, Anm.). Dass wir dann als erstes Unternehmen eines zertifizieren, das Snacks draus macht, ist nicht schlimm. Ich denke allerdings, dass die Insektenproduktion vor allem für die Tierfütterung zukunftsträchtig ist. Da mag die Zukunft mich auch Lügen strafen. Es ist vielleicht auch Geschmackssache.
Ein Ratespiel: In welchen Produktkategorien wird es 2021 den meisten Zuwachs an Bioprodukten geben?
Ich will nicht raten, ich will hoffen. Nämlich dass es ganz viele neue Bruderhahnprodukte gibt. Denn wenn wir unsere Ziele einhalten, bis Ende des Jahres zu jeder Henne auch den Bruderhahn aufzuziehen, dann gibt es einiges Geflügelfleisch, das nach EsserInnen sucht.
Wie sehr verfolgen Sie Sortimentsentwicklung und Produktinnovationen mit?
Sortimentsfragen befassen mich nicht. Wir müssen gewissermaßen damit leben, dass es auch in der Biobranche um das Neue geht: um Produkte, die vielleicht auf den zweiten Blick gar nicht mehr so neu sind; um mehr Convenience, die niemanden weiterbringt. Das Wichtige ist, dass wir den Biogedanken weiterentwickeln, da stecken wir als Verband unsere Energie hinein.