Harte Kost: Ein Roman übers Fressen und Gefressenwerden

»Es war nie meine Absicht, ein veganes Pamphlet zu schreiben!«, sagt Agustina Bazterrica.

Agustina Bazterrica, Jahrgang 1974, in Buenos Aires geboren, gelang mit ihrem Roman »Cadáver Exquisito« ein in ihrer Heimat Argentinien heiß diskutierter Bestseller, der auch mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Clarín Novel Prize, ausgezeichnet und nun von Matthias Strobel unter dem Titel »Wie die Schweine« für Suhrkamp Nova aus dem Spanischen übersetzt wurde.

Ihr Roman »Wie die Schweine« umreißt eine Gesellschaft, die Armut und Überbevölkerung durch Kannibalismus bekämpft.

Das Menschenfressen ist in der von Agustina Bazterrica beschriebenen Welt gängige Praxis, das Darüberreden wird jedoch tabuisiert. Wer dieses Tabu bricht, Dinge benennt oder die zum Verzehr bestimmten »Stücke« schont, wird selbst geschlachtet. Viele hadern mit der barbarischen Praxis, doch alle machen mit, um ihre Familien zu ernähren. Auch Marcos, der Held von »Wie die Schweine«, der sich arrangiert, um seinem dementen Vater einen menschenwürdigen Alltag in einem Pflegeheim zu ermöglichen. Marcos ist gelernter Fleischer, hat sein Handwerk noch mit Rindern und Schweinen im Betrieb seines Vaters gelernt und ist nun in einem großen Schlachthof als rechte Hand des Chefs auch für die Auswahl des Personals verantwortlich. Dabei agiert er durchaus mit Bedacht, man möchte sagen: gewissenhaft. »Marcos denkt, dass dieser Bewerber gefährlich ist. Wer so viel Lust auf Morden hat, ist zu labil, ist nicht imstande, die tägliche Routine des Tötens auf sich zu nehmen, das automatisierte, leidenschaftslose Schlachten von Menschen.«

Es war nie meine Absucht, ein veganes Pamphlet zu schreiben!«
– Agustina Bazterrica im Interview (siehe unten)

Ein Virus macht uns zu MenschenfresserInnen
Vieles in Bazterricas Roman ist paradox. Etwa wenn einer der Bediensteten des Schlachthofs die Geburt seines Kindes feiert, indem für alle KollegInnen ein »Jungtier« auf den Grill kommt. Mit dem Essen von Tieren hat man nach einer mysteriösen Virusinfektion aufgehört, als erst von Vögeln, später auch von Hunden, Katzen und allen möglichen Nutztieren Gefahr für den Menschen ausging. Tiere sind weitestgehend verschwunden, es regiert der Pragmatismus: »Seit es keine Hunde mehr gibt, sind die Gehwege sauberer.« Aus Angst vor Ansteckung durch Vögel wagt man sich nur mit Regenschirm aus dem Haus.
Vieles in dem 2016 geschriebenen Buch erinnert an Covid-19, an die Welt 2020. Doch könnte solch eine Dystopie Wirklichkeit werden? »Natürlich«, meint die Autorin in der E-Mail-Korrespondenz. »Das Coronavirus bestätigt das nur. Hugo Liu hat den Roman ins Chinesische übersetzt. Er hat mir von den Fake News berichtet, die aus China kamen, deren zufolge das Virus von Haustieren stammen würde. Menschen haben deshalb Haustiere aus den Fenstern geworfen, um sie zu töten. Das ist 2020 passiert und dem, was in meinem 2017 erschienenen Roman geschildert wird, sehr ähnlich.«

Ihre Sprache verzichtet auf Schnörkel, stellenweise erinnert der teilnahmslose Ton an Regieanweisungen. Etwa wenn wir in einem Zuchtbetrieb erfahren (»Schweigend betrachtet der Deutsche den Deckhengst«), warum es sich empfiehlt, einem »Stück« die Stimmbänder zu kappen; eben »damit sie noch unterwürfiger wird, damit sie im Moment des Geschlachtetwerdens nicht schreit«. Oder wenn ein Lederhändler bessere Transportbedingungen aushandelt, damit es unterwegs zu keinen Verletzungen, zu keinem Wertverlust kommt.

Trophäenjagd auf verarmte Celebrities
Einmal stolpern wir mit dem Protagonisten Marcos in eine exklusive Herrenrunde. In einer Hütte am Rande eines weitläufigen Jagdgatters holt sich der Geldadel den Kick beim Schießen der besonders vitalen schwangeren Weibchen oder von Celebrities. Denn wie in einem Dschungelcamp können sich in Geldnöte geratene Prominente im Jagdgatter verstecken. Überstehen sie es dort unentdeckt, kommen sie frei und ihre Schulden werden beglichen. So werden wir ZeugInnen einer Trophäenjagd, bei welcher der Rockstar Ulises Vox (gemeint ist natürlich Bono Vox, der Sänger der irischen Rockband U2) zur Strecke gebracht wird. Sein Schädel wird später an einer Wohnzimmerwand hängen, seine Zunge und sein Penis werden nach der Jagd gemeinsam verspeist.
Und immer, wenn man glaubt, jetzt wäre die Parabel vom Menschenfressen ausgereizt, tischt uns Bazterrica neue Scheußlichkeiten auf. Als der Organisator der Jagd den angewiderten Marcos bei Tisch auffordert »Lassen Sie uns die Scheußlichkeit genießen«, fühlt man sich beim Lesen als Komplize. Das mag auch an der Perspektive liegen. Zwar lernen wir Jazmin kennen. Anfangs wie ein Tier gehalten wird sie illegal von Marcos adoptiert und macht den Prozess der Zivilisation durch – sie lernt mit dem Feuer umzugehen und lesen, erinnert an Kaspar Hauser. Dennoch gibt es keinen einzigen richtigen Charakter aus der Ding-Welt der »Stücke«und Tiermenschen. »Mein erster Versuch beim Schreiben war wirklich aus der Perspektive eines der essbaren Menschen«, bekennt Bazterrica. »Aber das erschien mir irgendwann als absolut verrückte Herausforderung, weil es sich um Menschen ohne jede Form der Erziehung handelt, mit vermutlich sehr primitiven Gedanken. Ich habe die Idee also verworfen, weil es mir wichtiger war, eine klar fassbare Welt zu kreieren, als die Gedankenwelt aus der Sicht eines Wesens außerhalb der uns bekannten Zivilisation zu erkunden.«

»Wie die Schweine« verstört, weil es der Autorin darin gelingt, gewohnte Gepflogenheiten zu verrücken, dabei aber plausibel zu bleiben. Denn wir AllesfresserInnen sind nicht zimperlich und waren es auch nie im Laufe unserer Menschwerdung. Kannibalismus, also das Fressen und Gefressenwerden von ArtgenossInnen, hat uns über Jahrtausende begleitet. Was den Mensch zum Menschen macht, ist eben nicht, dass er Artgenossen verschont, sondern dass er sie bewusst verschonen kann. So muss »Wie die Schweine« auch als ein Appell an das, was wir »Menschlichkeit« nennen, gelesen werden. Und dieser folgend nicht auch andere Tiere zu verschonen wirkt schrecklich inkonsequent.

Agustina Bazterricas »Wie die Schweine« (Originaltitel: »Cadáver Exquisito«) ist 2020 im Suhrkamp Verlag erschienen. Die mexikanische Firma Dopamine Productora arbeitet an einer Verfilmung von »Wie die Schweine«. Bazterrica fungiert als Beraterin.

Agustina Bazterrica im Interview über Science Fiction und Vegetarismus, Hannah Arendt und Robinson Crusoes Freitag.


BIORAMA: Ich nehme an, Sie essen kein Fleisch. Oder?
Agustina Bazterrica: Sie haben Recht, ich esse kein Fleisch. Trotzdem möchte ich klarstellen, dass ich mich auf keinem Kreuzzug befinde, um Karnivoren zum Konvertieren zum Vegetarismus zu bringen. Es war nie meine Absicht, ein veganes Pamphlet zu schreiben. Ich wollte einfach nur den für mich bestmöglichen Roman schreiben, ohne dabei irgendjemanden von irgendwas zu überzeugen. Allein schon, weil Fanatismus meiner Meinung nach eine Form von Gewalt darstellt.

Unterscheidet sich das Feedback stark je nachdem, ob es von VeganerInnen oder FleischfresserInnen kommt?
Eigentlich gar nicht, nein. Letztlich hängt es einzig von der Empfindsamkeit des Lesenden ab. Es gibt VeganerInnen, die das Buch lesen und weinen, aber es gibt auch Fleischfressende, die weinen. Es gab FleischfresserInnen, die aufgehört haben, Fleisch zu essen, nachdem sie mein Buch gelesen hatten, andere wiederum haben das Buch nach dem Lesen weggelegt und Barbecue gegessen.

Wie kamen Sie auf die Idee, einen Roman über Kannibalismus zu schreiben?
Alles begann mit meinem Bruder, dem ich den Roman auch gewidmet habe. Die Idee dafür kam mir an den langen Abenden, die ich in seinem Restaurant »Ocho Once« in Buenos Aires verbrachte. Gonzalo Bazterrica arbeitet als Küchenchef mit Biolebensmitteln, vor allem aber ist ein überaus bewusster Food-Researcher und durch seine Küche und seine Arbeit konnte ich verstehen was Hippocrates mit »Lasst Nahrungsmittel eure Heilmittel sein und Heilmittel eure Nahrung« meinte. Dank meiner eigenen Lektüre zum Thema habe ich meinen Speiseplan Schritt für Schritt verändert und aufgehört, Fleisch zu essen. An diesem Punkt ist ein Schleier gefallen und meine Sicht auf Fleischkonsum hat sich komplett verändert. Für mich ist ein Steak mittlerweile ein Stück eines Leichnams. Eines Tages spazierte ich bei einem Metzger vorbei und als ich all die Tierkörper hängen sah, stellte ich mir plötzlich die Frage, warum da eigentlich keine toten Menschen hängen. Letztendlich sind wir ja Tiere, wir sind Fleisch. So kam mir die Idee für den Roman. Die Recherche dauerte sechs Monate, das Schreiben eineinhalb Jahre.

Im September erscheint »Cadáver Exquisito« auch auf Niederländisch. (Foto: Atlas Contact)

Es ist ein durch und durch düsterer Roman geworden, mit Referenzen an literarische Klassiker wie »Dracula«, die Legende von Ikarus und Serien wie »The Walkind Dead«. Wie groß war der Einfluss dieser Werke?
Wirklich bewusst war mir ihr Einfluss nicht, aber er ist wohl da, weil ich ohne Zweifel ein Fan von Vampiren und Zombies bin. Um einen Roman zu schreiben, greife ich allerdings zu anderer Lektüre und ich habe nicht einmal die dystopischen Klassiker wiedergelesen, sondern Essays über Kannibalimus, Tierrechte und Romane, die in Schlachthäusern spielen. Außerdem habe ich Handbücher darüber gelesen wie Schlachthäuser funktionieren – und erotische Romane, um mich der Sexszene in meinem Roman gewachsen zu fühlen.

Wir haben im Spanischen viele – 101, um exakt zu sein – Synonyme für Hure. Aber es gibt kein einziges negatives Äquivalent, um über einen Mann zu sprechen, der Sex mit vielen Frauen hat.«

– Agustina Bazterrica

Welchem Genre würden Sie »Cadáver Exquisito« zuordnen? Science Fiction? Oder Fantasy?
Keinem davon. Science Fiction im traditionellen Sinn ist es nicht, weil ich glaube, dass das Beschriebene jederzeit passieren könnte, und es ist auch nichts »Fantastisches« enthalten. Ich habe das Buch 2016 geschrieben, aber heute haben wir den Coronavirus und nichts daran ist Science Fiction, es ist sogar ganz real und alles begann wie in meinem Buch mit einem Virus in Tieren. Vielleicht ist das Buch am ehesten eine Dystopie und in diesem Sinne dann doch Science Fiction, weil keine Person, die gesund und bei Sinnen ist, in solch einer Welt würde leben wollen. Außer vielleicht einem Kannibalen.

In Ihrer Heimat Argentinien ist der Roman ein Bestseller. Die argentinische Kultur ist bekannt als Kultur, in der viel Fleisch gegessen wird. Wer waren denn Ihre ersten LeserInnen?
Es ist nicht die Kategorie Bestseller, die für mich Erfolg ausmacht. Erfolg hat ein Buch, wenn LeserInnen reagieren. Zum Beispiel höre ich immer wieder von StudentInnen, dass mein Roman das erste Buch überhaupt war, bei dem sie beim Lesen Vergnügen hatten. Das ist für mich Erfolg. Oder, dass ich von verschiedenen Schulen geladen wurde, um über den Roman zu sprechen. Das ist wichtig für mich, weil es mir die Möglichkeit gibt, mit Teenagern über den Kapitalismus zu sprechen und wie wir Gewalt naturalisieren. Dafür bin ich dankbar. Aber viele meiner frühen LeserInnen waren andere AutorInnen. Ich kenne viele SchriftstellerInnen, weil ich ein Lese-Event namens »Siga al conejo blanco« (übersetzt: Follow The White Rabbit, Anm.) koordiniere. Und die Auszeichung mit dem Clarin Novel Prize hat mir viel Sichtbarkeit in den Medien beschert. Das war aufregend und wunderbar!

»Wie die Schweine« schildert eine Gesellschaft, die nicht nur Haus- und Nutztiere losgeworden ist, sondern durch Kannibalismus auch Armut und Überbevölkerung bekämpft hat. Nun war die Geschichte des Menschen über einen langen und sogar den längsten Zeitraum auch eine des Kannibalismus. Haben Sie sich auch mit wissenschaftlicher Literatur über historischen Kannibalismus beschäftigt?
Ja, ich habe Artikel von Levi Strauss und »Pensar cannibal« (Think cannibal), die Doktorarbeit des Kolumbianers Adolfo Chaparro Amaya studiert. Ich habe auch Romane wie »Robinson Crusoe« gelesen, dessen Freitag ja ein Kannibale ist. Und ich habe viele Filme und Dokumentationen gesehen, zum Beispiel »Raw« von Julia Ducournau, in dem ein Vegetarier zum Kannibalen wird, oder Richard Fleischers Klassiker »Soylent Green«

In der deutschen Übersetzung von Matthias Strobel wurde aus »Cadáver Exquisito« »Wie die Schweine«. Pushkin Press hat »Tender is the Flesh« der englischsprachigen Übersetzung von Sarah Moses eine Frage als Untertitel verpasst: »If everyone was eating human meat, would you?«. (Foto: Suhrkamp)

In »Wie die Schweine« werden Menschen gezüchtet, industriell zu Fleisch verarbeitet, in Gattern findet Trophäenjagd auf Menschen statt und in Labors wird medizinisch an ihnen geforscht – fast alle denkbare Felder, auf denen wir heute mit Tieren zu tun haben, sie ausbeuten. Gibt es dennoch Bereiche, die Sie ausgespart haben?
Ja, Zootiere, die zu unserer Unterhaltung eingesperrt sind, Zirkustiere oder etwa Stierkämpfe oder andere Showkämpfe. Auch Rennpferde und Hunderennen oder, noch schlimmer, Hunde- und Hahnenkämpfe. Ich dachte darüber nach, auch das ins Spiel zu bringen, aber dann schien es mir auch okay, nicht alles zu thematisieren und Aspekte auszulassen. Ich wollte auch Raum für Imagination lassen.

Was mich beim Lesen fasziniert hat, ist wie Sie den Prozesses der Tabuisierung beschreiben, wie es gesellschaftlich verpönt wird, über das Schlachten und Essen von Menschen zu sprechen.
Danke. Es freut mich dass Ihnen das aufgefallen ist, dieser Aspekt meines Romans war mir wichtig. Ich habe versucht, behutsam mit Sprache zu arbeiten. Eine neue Matrix zu schaffen, erfordert schließlich neue Worte, neue Bedeutungsebenen und neue Zugänge beim Benennen von Neuem – etwa wenn ein Mensch, der zum Verzehr gezüchtet wird, zum Produkt und als »Stück« bezeichnet wird. Ich habe aber ganz bewusst auch mit Stille gearbeitet, mit dem ungeschriebenen Wort, was eine andere Form des Kannibalismus darstellt, indem wir Komplizen der Gewalt werden, mit dem wir diese Realität aufzubauen und am Leben zu halten helfen. Das ist immer so. Wenn wir zum Beispiel nicht über Frauenmord (»femicide«, Anm.) sprechen – ein Wort, das in meinem Land vor zehn Jahren kein Mensch ausgesprochen hat –, dann geben wir der Straflosigkeit Raum, einem Denken, demzufolge Frauenleben wertlos sind. Indem wir Akte der Gewalt benennen und verstehen, schaffen wir Entität und können uns als Gesellschaft hin zur Prävention vorarbeiten.

Brandzeichen für Menschen, das industrielle Töten, barbarische Experimente in Laboren – man denkt beim Lesen Ihres Buchs unweigerlich an die nationalsozialistische Herrschaft.
Nun, das ist wohl, weil das Teil der Weltgeschichte ist. Beim Schreiben waren mir diese Parallelen gar nicht so bewusst. Ich habe das alles natürlich irgendwann in der Schule im Unterricht gehört und es ist irgendwo in meinem Gehirn. Die Ähnlichkeit mit dem Holocaust sah ich selbst aber erst als das Buch bereits erschienen war. Mein Schreibprozess ist größtenteils intuitiv. Über den Ursprung meiner Ideen, denke ich manchmal gar nicht nach. Oft erkenne ich die Quellen selbst erst wenn ich fertig bin.
Ein wichtiger Teil des Anerkennens einer neuen Ordnung ist die Komplizenschaft des Volks. Genau das hat Hannah Arendt in ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« und in dessen Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« beschrieben: dass die Vernichtung der Juden in Deutschland und anderen europäischen Ländern nicht allein vom puren Bösen der Naziherrscher ausging, sondern von der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Dass diese von BürokratInnen exekutierte Massaker nicht ohne die Gleichgültigkeit der »guten« BürgerInnen möglich gewesen wären. Das ist eine Erkenntnis, die ich in meinem Roman intuitiv voraussetze.

Es gibt eine Idee in Ihrem Buch, bei der ich mir nicht sicher bin, ob ich sie richtig verstanden habe. Was genau ist die ERG, die »Erste Reine Generation«?
Okay, das ist eine wichtige Idee! Ich weiß, dass mein Übersetzer sehr gut ist, deshalb habe ich sie vielleicht nicht klar genug beschrieben. Also: Es gibt zwei Arten von menschlichem Fleisch: Modifiziertes, welches von Menschen stammt, die auch durch Hormongaben schneller wachsen; und das ERG-Fleisch der »Ersten Reinen Generation«, das von Menschen stammt, die in Gefangenschaft geboren und ohne genetische Modifikation und Wachstumsbeschleuniger aufgezogen wurden, das deshalb wirklich teuer ist, weil ihre Aufzucht länger dauert. Und natürlich ist ERG auch biozertifiziert.

Könnte Ihre Dystopie zur Wirklichkeit werden?
Natürlich. Der Coronavirus bestätigt das nur. Hugo Liu hat den Roman ins Chinesische übersetzt. Er hat mir von den Fake News berichtet, die aus China kamen, deren zu folge das Virus von Haustieren stammen würde. Menschen haben deshalb Haustiere aus den Fenstern geworfen, um sie zu töten. Das ist 2020 passiert und dem, was in meinem 2017 erschienenen Roman sehr ähnlich.
Die Realität, in der wir leben, und was wir als »normal« empfinden, ist nur eine soziale Konstruktion. Sogar was wir sagen, wurde für einen Zweck konstruiert und baut auf einer künstlichen Ordnung. Ein Beispiel: In meinem Land, in meiner Sprache – eine Sprache, die ich mit 22 anderen Nationen und 572 Millionen Menschen teile – verwenden wir das Wort »Hund« — perro — um über den besten Freund des Menschen zu sprechen. Wenn wir das weibliche Wort perra verwenden, wird es ein Synonym von puta, der Hure. Wenn wir von einem wagemutigen Menschen sprechen – atrevido –, sprechen wir von einem furchtlosen Mann. Das selbe Wort in seiner femininen Form – atrevida – bezieht sich weder auf eine puta, also eine Hure. Wir haben im Spanischen viele – 101, um exakt zu sein – Synonyme für Hure. Aber es gibt kein einziges negatives Äquivalent, um über einen Mann zu sprechen, der Sex mit vielen Frauen hat. Denn das maskuline puto bezieht sich als Beleidigung auf einen homosexuellen Mann. Männer, die Sex mit vielen Frauen haben, werden als begehrenswert angesehen. Für sie gibt es keine derogative Bezeichung, was ein klares Zeichen für die soziale Konstruktion des Patriarchats ist.
Wie bringen wir also Menschen dazu, menschliches Fleisch zu essen: Einfach. Eine Gruppe mit Macht, um Medien, Institutionen und PolitikerInnen zu überzeugen, dass es besser ist, Menschenfleisch zu essen. Genauso wie wir von so vielen Ansichten überzeugt wurden – und über soooo viele Jahrhunderte geglaubt haben, Frauen wären weniger wert als Männer.

Wir lernen zwar Jazmin kennen, eine Angehörige der Ersten Reinen Generation, die anfangs wie ein Tier gehalten wird, dann aber, illegal vom Protagonisten adoptiert, den Prozess der Zivilisation durchmacht – sie lernt mit dem Feuer umzugehen und Lesen, und erinnert an Kaspar Hauser. Dennoch gibt es keinen einzigen richtigen Charakter aus der Welt der, nennen wir sie: Tiermenschen. Haben Sie es bewusst vermieden, aus der Perspektive eines wie ein Tier gehaltenen Menschen zu schreiben?
Was für eine wunderbare Frage. Es ist das erste Mal, dass sie mir gestellt wird – vielen Dank! Mein erster Versuch beim Schreiben war wirklich aus der Perspektive eines der essbaren Menschen. Aber das erschien mir irgendwann als absolut verrückte Aufgabe, weil es sich um Menschen ohne jede Form der Erziehung handelt, mit vermutlich sehr primitiven Gedanken. Ich habe die Idee also verworfen, weil es mir wichtiger war, eine klar fassbare Welt zu kreieren als die Gedankenwelt aus der Sicht eines Wesens außerhalb der uns bekannten Zivilisation zu erkunden.

Männer Scheitern oft, wenn sie aus weiblicher Sicht schreiben. War es schwer für Sie, die Perspektive eines Mannes einzunehmen?
Gar nicht. Meine Charaktere haben oft unterschiedliche Geschlechter. Aber gut, wirklich beantworten, ob mir das gelungen ist, können immer nur meine LeserInnen.

Manchmal hat man das Gefühl, dass Sie beim Schreiben fasziniert waren, vielleicht sogar Gefallen an den beschriebenen Grausamkeiten empfunden haben könnten. War beim Schreiben auch Sadismus mit im Spiel?
Nicht beim Schreiben, nein. Ich muss emotional nicht involviert sein wenn ich schreibe. Wenn ich beim Tippen weine, dann schreibe ich grottenschlecht. Ich leide wirklich in der Zeit der Recherche. Das war wirklich der härteste Part im Prozess, diese Bilder der Gewalt, zu sehen wie Hühnern die Schnäbel geschnitten werden, damit sie sich in überfüllten Ställen nicht totpicken. Und zu sehen wie Wildtiere lebendig gehäutet werden, das ist furchtbar.

»Wie die Schweine« wird gerade zu einer Fernsehserie. Was wird sich dafür ändern?
Das stimmt, aber ich habe darüber noch keine Information. Es wurde noch nicht mit dem Script begonnen.

Werden Sie an der Verfilmung mitarbeiten?
Ja, ich werde als Berater fungieren, aber noch ist nichts entwickelt. Das Projekt steht noch ganz am Anfang.

Das Interview wurde auf Englisch und per Mail geführt.
Übersetzung: Thomas Weber

Weiterführende Information zum Schaffen von Agustina Bazterrica gibt es auf der Website der Autorin.


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