Viele sagen, wir machen zu viel
80 verschiedene Kulturen werden beim Biolebensmittelhersteller La Selva angebaut und verarbeitet. Diese Vielfalt baut auf Überzeugung – und einer Menge Arbeit.
In der Region Maremma, im Süden der Toskana, bewegt sich Anfang Mai ein Traktor durchs Feld, links und rechts fliegt das Blütengemüse in hohen Bögen. Gefahren wird er von Rumänin Alina Adam, ihre italienischen Kolleginnen begleiten ihn an den Flanken durch hüfthohe Disteln, entfernen deren Früchte nach einem kurzen prüfenden Blick auf Reife – Größe, Farbe, Form – mit einem gekonnten kräftigen Dreh von der Pflanze und werfen sie in die auf den Traktorenarmen aufgereihten Körbe. Die Mitarbeiterinnen scheinen genau zu wissen, was sie tun, die Stimmung ist gut. Alle paar Tage wird das auf jedem Feld der Anbauflächen von insgesamt 17 Hektar wiederholt, damit die bis zu 15 Früchte einer Artischockenpflanze jeweils zum idealen Reifezeitpunkt einkassiert werden können. Die Artischockensorten »Capriccio«, »Terum« und »Violetto di Toscana« wachsen wild gemischt, die Reife erkennt man bei der einen Sorte an der durchgehend violetten Farbe, die andere ist auch erntebereit vorwiegend grün. Dazwischen gedeiht einiges Beikraut und auch jene Artischocken, die sich bereits öffnen, sie werden stehen und blühen gelassen. Sie werden später im Jahr in den Boden eingearbeitet. Die Reste, die bei der Verarbeitung der Ernte anfallen, kehren über die Kompostierung ebenso als Humus auf das Feld zurück.
Naturland ist einer der größten deutschen Verbände für ökologischen Landbau. La Selva ist Gründungsmitglied, dessen Landwirtschaft seit 1981 Naturland-zertifiziert und seit 2018 »Naturland FAIR«-zertifiziert. Die 2010 eingeführte Zertifizierung »Naturland FAIR« erweitert die Standards & Kriterien zum ökologischen Anbau um solche zu sozialer Verantwortung und fairem Handel.
Die gesamte Region Maremma – übersetzt: sumpfiges Küstenland – hat sich mehrmals stark gewandelt. Geprägt war die Gegend von auf wenige Feldfrüchte (etwa Getreide) konzentrierte Landwirtschaft, Bergbau und den Sümpfen, früher ein Malariagebiet, die großteils im 18. und 19. Jahrhundert trockengelegt wurden. Die Region ist dünn besiedelt, der toskanische Massentourismus findet nördlich von hier statt, biologische Landwirtschaft etabliert sich erst und der Weinbau war bis vor wenigen Jahren eher der Deckung des Eigenbedarfs gewidmet, als dass er auf internationale Vermarktung abgezielt hätte. Doch inzwischen setzt die Region auf sanften Tourismus und ihre Naturschutzgebiete. Den Bayern Karl Egger, der sein Unternehmen La Selva 1980 gegründet hat, kann man jedenfalls in dieser Hinsicht als Pionier bezeichnen. Er war außerdem einer der Begründer von Naturland, als es noch keine Bioverordnung auf gesetzlicher europäischer Ebene gab, die Feldarbeit noch fast ausschließlich von ItalienerInnen erledigt wurde und die Arbeit mit schwerem Gerät Männerarbeit war.
»Artischockenarbeit ist Frauenarbeit«
Vom Stapler, der die frisch eingefahrene Ernte auf dem Verarbeitungsgelände bei Albinia zur Waschanlage fährt, winkt eine Mitarbeiterin. In der Manufaktur werden Spitze und Fuß der Früchte mit scharfen Messern abgeschnitten und das Herz mit einer kreisenden Schnittbewegung aus der scheinbar butterweichen gröberen Hälfte der Blätter geschnitten – bei über 750.000 Artischocken in der Saison –, in 15 Sekunden pro Stück. Der Selbstversuch zeigt: butterweich ist hier noch gar nichts und den Nachahmungsversuch sollte man anfangs nur mit Stahlhandschuhen wagen. Von hier bis zum Ende der Abfülllinie, wo die blanchierten Herzen schlussendlich in Gläser mit Öl eingelegt werden, arbeiten wieder ausschließlich Frauen. »Wir wollen hier keine Vorurteile und Rollenvorstellungen prolongieren«, sagt Christian Stivaletti, Geschäftsführer des deutsch-italienischen Biolebensmittelherstellers, auf die Frage, ob das ein für die Gegend typisches Bild der Feldarbeit und Verarbeitung ist. »Die übliche Vorstellung von Frauenarbeit ist hier eine andere, als wir sie haben, das ist ein Fakt. Aber diese Vorstellung wollen wir nicht prolongieren.« Einer der beiden landwirtschaftlichen Leiter geht in Pension, seine Nichte Benedetta Zauli wird ihm demnächst nachfolgen.
»Ja, auch im Bereich der Verarbeitung gibt es Frauen in leitenden Positionen. Aber die haben es anfangs nicht leicht. Es ist nicht so normal hier wie vielleicht in Deutschland, als Frau anderen – auch Männern – was zu sagen«, sagt Monika Mayer. Die Lebensmitteltechnologin verantwortet seit 20 Jahren die Qualitätssicherung und Rezepturentwicklung bei La Selva. Sie setzt nach kurzem Überlegen nach: »Wir sind halt auf dem Land, da ist es in Deutschland vielleicht auch so. Aber wir haben uns hier zusammengerauft.« Gleichzeitig gebe es in der Leitung des Betriebs gerade Bewegung, einen Generationswechsel – »das erlebe ich als Veränderung. Caroline (Caroline Egger, die Tochter des Eigentümers Karl Egger, Anm.) wächst gerade in ihre Rolle hinein und wird als Eigentümerin dann vielleicht auch mehr eingreifen und machen wollen.«
»Wir glauben daran, dass jeder Job von Frauen und von Männern gemacht werden /soll/, und das Geschlecht kann natürlich keine Grundlage sein, um zu beurteilen, ob jemand für dieses oder jenes fähig ist. Es hat sich jedoch bisher herausgestellt: Artischockenarbeit ist Frauenarbeit. Es geht um Fingerfertigkeit. Es scheint, dass die männlichen Mitarbeiter das nicht so gut können. Und es braucht Konzentration«, erklärt Stivaletti ernst und fügt hinzu: »Und Teamleading, von der Ernte über den Dienstplan bis hin zur Verarbeitung.« Und wo findet man die Saisonarbeitskräfte mit den entsprechenden Ausbildungen an den Geräten, etwa einem Staplerschein oder Traktorführerschein, oder auch welche, die einen HACCP-Kurs für die Lebensmittelverarbeitung mitbringen?
Die Ausbildungen werden meist im Betrieb durchgeführt oder vom Betrieb finanziert. »Es ist in unserer Organisationslogik einfach notwendig, dass die Leute verschiedene Dinge können. Und wir versuchen die, die Interesse zeigen, zu überzeugen, sich weiterzubilden. Besonders die, die das Zeug zur Teamleiterin oder zum Teamleiter haben«, erklärt Stivaletti. »Unser Ziel ist es, die gleichen Leute jedes Jahr zu haben. MitarbeiterInnen mit Erfahrung.«
Anders als – nicht nur – der Süden
Süditalien ist in landwirtschaftlicher Hinsicht in den vergangenen Jahren über Landesgrenzen hinweg für die dort teilweise vorherrschende »Caporalato«, die Ausbeutung von SchwarzarbeiterInnen, bekannt geworden. Stivaletti gibt zu bedenken, dass die Arbeitsbedingungen im Süden zwar in einer Gesamtbetrachtung wohl am schlechtesten sind und nur im Allgemeinen in Zentral- und Norditalien besser, aber: »Auch im Süden sind nicht in allen Betrieben die Bedingungen schlecht beziehungsweise katastrophal, vereinzelt ist es auch in unserer Gegend nicht in Ordnung. Aber für uns ist das kein Thema. Wir setzen auf faire und gute Arbeitsbedingungen und MitarbeiterInnenbindung. Auch wenn uns Grenzen gesetzt sind: Wir können einem Großteil der MitarbeiterInnen nicht 365 Tage im Jahr Beschäftigung bieten.«
Drei bis vier Arbeitskräfte, »SchülerpraktikantInnen und Studierende«, sagt Stivaletti, werden für die Zeit der händischen Basilikumernte und für die Verarbeitung zusätzlich gebraucht, der Rest wird mit den rund 70 jeweils für ein Jahr befristet Beschäftigten bestritten. »Unser Ziel ist es, dass unsere MitarbeiterInnen den Großteil des Jahres bei uns beschäftigt sind, zusätzlich zu den 30 ganzjährig unbefristet Angestellten im Büro und in der Produktion haben wir rund 70 MitarbeiterInnen, die befristet für mindestens 156 Tage im Jahr angestellt werden, um eine komplette Anerkennung des Arbeitsjahres für die Pension zu gewährleisten.« Unabhängig von der Anzahl der Arbeitstage pro Jahr gewährt das italienische Arbeitsgesetz den MitarbeiterInnen den Bezug von Arbeitslosengeld für die Zeit, in der die Landwirtschaft keine Arbeit bieten kann.
Im Bereich Ernte gebe es Kernteams, die quasi der Fruchtfolge des La-Selva-Sortiments folgen und immer dort arbeiten, wo gerade etwas zu tun ist. »Bis irgendwann die Weinabfüllung kommt, die dauert dann zwei Monate.« Insgesamt könne so ein Großteil der MitarbeiterInnen drei Viertel des Jahres beschäftigt werden. »Wir sind zu komplex, wir machen zu viel, sagen viele. Aber die Vielfalt ist eben auch schön und macht Spaß und so können wir möglichst vielen im Team zumindest halbwegs übers Jahr weg Arbeit bieten.« Die durchschnittliche Verweildauer im Betrieb beträgt 15 Jahre. Das ist ungewöhnlich, nicht nur in der italienischen Landwirtschaft. Die Traktorfahrerin der Artischockenernte, Alina, hat schon vor Jahren ihren Wohnsitz und den ihrer Familie nach Italien, in die Maremma, verlegt.
Die Autorin hat auf Einladung von La Selva im Mai 2019 die Artischockenernte in der Maremma besucht.