Fiktion ganz nah am Echten
Gäste sind auf der Suche nach dem Ursprünglichen, die Grenzen zur Fälschung sind fließend. Ein Streifzug durch Niederösterreich.
Text: Ulrike Potmesil
Der Urlaubstrend geht klar Richtung Authentizität. Zwar nicht für jene, die Disneyland besuchen oder in Las Vegas ihr Glück suchen, dafür aber für Menschen, die gerne genussvoll reisen und in fremde Lebensräume eintauchen wollen. Das geht aus den Tourismusstrategiepapieren etlicher Staaten hervor. Deutschland etwa führt Authentizität im ersten Punkt seiner Tourismusstrategie an, ebenso hat sie im aktuellen Programm »Swissstainable«, der Strategie zur nachhaltigen Entwicklung des Reiselands Schweiz, große Bedeutung.
Auch die Tourismusstrategie des Bundeslandes Niederösterreich setzt auf Authentizität, wie aus dem Strategiepapier 2020–2025 zu entnehmen ist. »Bis 2025 soll Niederösterreich als nachhaltiges, authentisches und vor allem attraktives Kurz- und Haupturlaubsland etabliert werden«, heißt es darin. Aber was bedeutet Authentizität? Das Griechische »Authentis« bedeutet eigenhändig. Im Sinne von echt wurde es ab dem 13. Jahrhundert für Reliquien verwendet. »Authentica« waren die von der Kirche vorgegebenen Bescheinigungen für Knochen, die Heiligen zugeordnet wurden.
Doch abgesehen von Pilgertouristinnen und -touristen: Was erwarten Gäste, wenn sie von Authentischem sprechen, und wie lässt sich diese Erwartungshaltung mit Tourismusplänen und Marketingstrategien vereinbaren? Vom Charakter eines Menschen bis hin zu Kulturen wird erwartet, dass »die Erscheinung mit dem Wesen übereinstimmt und die wahre Identität zum Tragen kommt«, wie es Karl Marx formulierte. Dies gilt auch für die Tourismusbranche, denn man will das Echte, und nicht das Künstliche, besichtigen.
Über Alltagskultur aus vergangener Zeit existieren wenige Aufzeichnungen, das Wissen über sie basiert auf mündlicher Überlieferung
Günter Fuhrmann
Echtheitszertifikat
Nicht zuletzt, um dies zu untermauern, stellt die Unesco-Echtheitszertifikate für Stätten des »Kulturerbes« aus. Auch in Niederösterreich befinden sich einige solchermaßen zertifizierte Orte. Erst im Jahr 2022 wurde die Weinviertler Kellerkultur zum Nationalen Immateriellen Kulturerbe erklärt. Handelt es sich beim Welterbe um materielle Kultur- und Naturdenkmäler, wie etwa das Taj Mahal oder Schloss Schönbrunn, umfasst das Immaterielle Kulturerbe Bräuche, Rituale, Feste und traditionelles Handwerk. »Es bedeutet die Wertschätzung geübter Bräuche«, sagt der niederösterreichische Kulturmanager Günter Fuhrmann, er ist in der Ausstellungproduktion und im sogenannten Heritage Marketing tätig. Man wisse viel und zugleich wenig über die Kellergassen. Fuhrmann sagt, man weiß »wenig über die Zeit, als sie errichtet wurden und in erster Linie Produktionsorte für den Weinviertler Wein waren, viel über die Zeit danach.« Über Alltagskultur aus vergangener Zeit existieren wenige Aufzeichnungen, das Wissen über sie basiert auf mündlicher Überlieferung. Doch mit der Technisierung der Weinproduktion hatten die Gassen ihren Zweck erfüllt und wandelten sich zu Orten der Geselligkeit und über diese zweite, spätere Identität der Kellergasse gibt es viele schriftliche Quellen. Die Frage, welche der beiden Identitäten nun das kulturelle Erbe darstellen, stellt sich laut Fuhrmann nicht: »Die zeitliche Achse spielt keine Rolle in der Entscheidung der Unesco. Die Liste enthält jahrtausendealte Traditionen ebenso wie wenige Jahrzehnte alte.«
Die klassische Kulturkritik postulierte, Tourismus sei »Massenbetrug«, vermarkte nur inszenierte Echtheit. Kulturelle Identität sei Show zur Unterhaltung der Fremden, faszinierend und exotisch. Nur was als authentisch präsentiert werde, verdiene die Bezeichnung Kultur und damit auch, erhalten zu werden. Und nur was erhaltenswert ist, kann zur Sehenswürdigkeit werden. »Venedig ist wahnsinnig echt«, lässt Ludwig Thoma vor hundert Jahren das Fräulein Käsebier schwärmen. So echt wie die Kellerkultur.
»Wenn sich die Menschen mit dem Kulturgut identifizieren, es selbst wertschätzen und leben, wird es auch für Gäste interessant«, meint Fuhrmann. Sobald Gast und GastgeberIn Erlebnisse teilen, Einheimische Geheimtipps geben, Seele und Herz der Orte spürbar werden, seien diese mehr als bloße Kulisse. Die Köllamauna verkörpern diese gelebten Traditionen, hatten früher die Aufsicht über die Weinkeller und setzen sich heute für die Erhaltung der Kellerkultur ein. Solange Kultur nicht dargestellt sondern gelebt werde, sei sie nicht in Gefahr, musealisiert zu werden, ist Fuhrmann überzeugt. Zudem sei das Weinviertel »noch sehr weit von Overtourismus entfernt«, ein Phänomen, das Musealisierung beziehungsweise Folklorisierung beschleunigen würde. Was den materiellen Wert der Kellergasse betrifft, gibt es ebenfalls Pläne. Definierte Schutzzonen sollen gewachsene Strukturen in der Kellergasse erhalten, eine zeitgemäße Nutzung ermöglichen und den Abbruch von historisch wertvollen Kellern verhindern.
Echte Hotspots
Niederösterreich hat gegenüber den westlichen Bundesländern den (aus BesucherInnenperspektive) Vorteil, relativ spät als Urlaubsziel entdeckt worden zu sein, dennoch weisen einige Top-Ausflugsziele hohe BesucherInnenzahlen auf. Was potenziell sehenswert ist, schlagen TouristikerInnen vor, was tatsächlich sehenswert ist, entscheiden letztendlich die Gäste.
Wer Echtes sucht, will »Geheimtipps« finden. Wie etwa die Trachtenkapelle Brand der Ortschaft Brand-Nagelberg im Waldviertel. Sie ist seit 2021 Immaterielles Unesco-Kulturerbe, was dem Engagement des Obmanns Jürgen Uitz zu verdanken ist. Er vertiefte sich in die 100 Jahre alte enge Verbindung zwischen der Trachtenkapelle Brand und den Blaskapellen jenseits der tschechisch-österreichischen Grenze, aus der eine gemeinsame Musiziertradition im Klangbild der südböhmischen Blasmusik entstanden war. »Dann bin ich auf einen Zeitzeugen aufmerksam geworden, bin spontan nach Prag gefahren und habe den 92-Jährigen interviewt, das war der Beginn der Idee, dass wir uns bei der Unesco bewerben«, erzählt er. 3000 Besucherinnen und Besucher kamen im Vorjahr zum jährlichen Festival, viel mehr müssen es auch nicht werden, meint Uitz. Es ist ein Festival, das von Engagement, Ehrenamtlichkeit und persönlichem Austausch zwischen Gastgebern und Gästen lebt.
Als BesucherInnenmagnet erweisen sich auch die Stadt Baden und das Stift Heiligenkreuz, 2021 und 1994als Unesco-Kulturerbe ausgezeichnet. Heiligenkreuz ist eines der wenigen Klöster in Europa, die ihre Tradition ebenso wie die Gebäude und ihre Nutzung vom zwölften Jahrhundert bis heute kontinuierlich beibehalten haben. Dem Ort kommen somit spirituelle, historische, künstlerische und kulturelle Bedeutung in gleichem Maße zu. Die Unesco wertet Heiligenkreuz als Synonym für klösterliche Tradition und ihre Verantwortung für das historische Erbe.
Altertum mit Multimedia
Doch Niederösterreich verfügt auch über Stätten, die ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen wurden, Kultur- und Naturdenkmäler von außergewöhnlichem universellem Wert. Beispiel für jahrtausendealtes Kulturerbe ist der Donau-Limes, er verläuft auf insgesamt 600 Kilometern der Grenzen des Römischen Reiches. Zu den ausgewählten Standorten von Deutschland bis zum Schwarzen Meer gehört auch Carnuntum, die 2000 Jahre alte römische Befestigung östlich von Wien. Die Rekordzahl von 550.000 BesucherInnen wurde 2011, als dort die Niederösterreichische Landesausstellung stattfand, verzeichnet.
Wer in Carnuntum Authentizität erwartet, wird allerdings enttäuscht. So wie an vielen anderen Tourismushotspots weltweit. Denn nicht nur im Falle einer 2000 Jahre alten Stadt geht nichts ohne moderne Infrastruktur. Carnuntum hat sein BesucherInnenzentrum, seine Multimediashow, seine rekonstruierten und dekorierten römischen Häuser. Die Kellergassen kommen zwar ohne dergleichen aus, aber längst ist nicht alles echt. Weder die Dixi-Toilette noch die zu Gästequartieren umgebauten Keller. Und vor allem nicht die anderen TouristInnen, die die Orte mit ihrer Präsenz sozusagen gegenseitig ›ent-authentifizieren‹. Wer authentisch urlauben und trotzdem nicht auf ein Mindestmaß an Komfort verzichten möchte, hat nur diese Chance: Sich dem Echten so gut wie möglich anzunähern. MarketingstrategInnen wiederum bemühen sich im Idealfall, so wenig wie möglich zu verfälschen, dabei aber gleichzeitig so viel Infrastruktur wie möglich zu bieten. Und wenn es nicht authentisch ist, ist es zumindest schöne Fassade. All-inclusive-Kultur, authentisch touristisch.
Günter Fuhrmann
Der historisch versierte niederösterreichische Kulturmanager Günter Fuhrmann ist Ausstellungproduzent und Heritage Marketer.