»Das Wirtshaus ist ein Möglichkeitsraum.«

Ein exklusives Restaurant? Für viele wäre ein inklusives Wirtshaus vorteilhafter.

Ein leerer Tisch mit alten Stühlen
Das Dorfwirtshaus, in dem die Leute zusammenkommen können, ist seltener geworden. Inklusionsforscherin Dr. Michaela Moser im Gespräch darüber, wie ein solches aussehen könnte. Bild: Unsplash.com/Elliott-Stallion.

BIORAMA: Was konstituiert das Wirtshaus als sozialen Ort? Gilt das für jedes Restaurant? 
Michaela Moser: Das Wirtshaus ist im Grunde ein öffentlicher privater Raum. Also ein sehr spezieller Raum, wo sich alle möglichen Leute treffen können, auch über unterschiedliche Zugehörigkeiten hinweg. Denn ähnliche Orte sind oft Vereinslokale oder auf andere Weise Räume für Menschen, die ein Interesse teilen. Um sich im Wirtshaus zu treffen, muss man kein spezielles Interesse teilen. Das Wirtshaus wäre dazu konstituiert, ein Ort für alle und damit der Inklusion zu sein. Ein Ort, wo man sich über unterschiedliche Interessen, aber auch soziale Schichten hinweg treffen kann. Das ist es aber nicht automatisch – man muss schon etwas dafür tun.

Sie beschreiben einen Idealtypus und nicht die überall gängige Praxis?
Das Wirtshaus ist ein Möglichkeitsraum. Wir leben ja in relativ segregierten Gesellschaften: Die Leute teilen sich zunehmend auf und bleiben hauptsächlich in ihren Blasen. Aber ein Wirtshaus kann ein Ort sein, wo sich Leute mit unterschiedlichen Hintergründen treffen. Das ist nicht nur eine abgefahrene Fantasie, es gibt sie ja, diese Wirtshäuser, die solche Orte sind. Gleichzeitig wird es aber auch ganz anders gelebt, und es gibt Entwicklungen, die eher Ausschlüsse produzieren.

Welche unterschiedlichen Zwecke in punkto Inklusion erfüllen denn Wirtshäuser und Vereinslokale? 
Das Vereinslokal ist für Mitglieder. Vereine setzen ein Commitment zu einem gemeinsamen Interesse voraus. In einen Fußballverein gehen nur Leute, die gerne Fußball spielen. Wäre für mich nichts. In einen HobbymalerInnenverein, gehen Leute, die gerne malen. Essen und Trinken ist kein besonders spezifisches Interesse, und ich muss nicht Teil eines Vereins werden, um ins Wirtshaus zu gehen. 

Heißt das, dass gerade in kleinen Gemeinden, wo das Angebot an sozialen Orten oder auch Vereinslokalen klein ist, es wichtiger ist, dass jene sozialen Orte, die es gibt, nicht für eine spezifische Gruppe von Menschen angelegt sind?
Ja, dass sie für alle da sind, ist sehr wichtig. Wir arbeiten gerade in einem kleineren Ort an einem Projekt, wo es um mehr Lebensqualität für unter anderem ältere Menschen und um die Bekämpfung von Einsamkeit geht. Der große Wunsch einiger älterer Frauen ist dort, dass es ein Café gibt, einen Treffpunkt, der nicht stark punziert ist. Ein Ort, wo sich Leute, treffen, vernetzen und austauschen und in der Folge dann auch gegenseitig unterstützen können.

»Essen und Trinken ist kein besonders spezifisches Interesse, und ich muss nicht Teil eines Vereins werden, um ins Wirtshaus zu gehen.«

Michaela Moser

So manches Wirtshaus scheint eher homogen in der Gruppe, auf die es einladend wirkt. Wer kein älterer, trinkender Mann ist, oder eine andere, als die in der angestammten Runde vorherrschende Meinung vertritt, will dort anscheinend nicht hin oder ist nicht willkommen. 
Leider sind die vielerorts weniger werdenden Wirtshäuser teilweise keine Orte mehr, an denen sich viele Leute wohlfühlen Bei Inklusion geht es nicht nur um  Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit migrantischer Herkunft, sondern darum generell möglichst alle BewohnerInnen anzusprechen, z. B. auch Familien mit Kindern oder ältere Frauen. Es geht um einen Ort, wo sich viele gerne länger aufhalten.

Alkohol hat eine schillernde Rolle an solchen Orten. Was wäre den ein inklusiver Umgang damit? 
Alkohol muss nicht unbedingt ein Problem sein. Auch die älteren Frauen in unserem Projekt, die sich ein gemütliches Café wünschen, trinken sicher gern mal ein Glaserl. Es muss ja nicht gleich ungut werden, nur weil wo Alkohol getrunken wird. Zum Problem werden Situationen, in denen niemand drauf schaut. Im Grunde hätten die WirtInnen da auch die soziale Funktion, halt irgendwann einmal, wenn es genug ist, jemanden nichts mehr auszuschenken oder um Zurückhaltung zu bitten und so ein gutes Ambiente für alle zu schaffen. 

Also braucht ein Wirtshaus eine Wirtin oder einen Wirt, die Gastlichkeit hochhalten?  
Ja, es braucht GastgeberInnen, die sich dafür verantwortlich fühlen, dass sich alle möglichst wohlfühlen. 

Lokale wie Wirtshäuser können also Inklusionsfunktionen übernehmen, weil sie ein Ort für viele mit vielen Funktionen gleichzeitig sein können. Was kann ein Wirtshaus im Idealfall, das eine Tankstelle nicht kann? 
Eine Tankstelle ist kein Ort, wo ich mich unbedingt länger aufhalten will, wo ich Kontakte knüpfe und die vertiefe. Die Tankstelle ist eher Ort der schnellen Versorgung.

Zumindest solange es im Ort noch ein Wirtshaus gibt. Welche Rollen spielen Essen und Nahrungsaufnahme für dieses Kontakteknüpfen? Welche Rolle hat Ernährung für den sozialen Zusammenhalt, für Inklusion in einer Gemeinde?
Nahrungsaufnahme hat meistens eine soziale Komponente, Essen wurde historisch gesehen und wird auch aktuell in  in unterschiedlichen Kulturen gemeinschaftliche vollzogen. Im Gegensatz zu anderen existenziell notwendigen Vollzügen, wo man für sich bleibt, also zum Beispiel beim Ausscheiden der Nahrung. Da gibt es ja kaum Bestrebungen, das kollektiv zu tun. Aber die Nahrungsaufnahme hat eben auch soziale Funktionen. Man trifft sich als Familie oder im FreundInnenkreis zum Essen, man feiert mit besonderem Essen und Essen hat oft auch rituelle oder religiöse Funktionen. 

Michaela Moser hat in der Vergangenheit im Rahmen einer Machbarkeitsstudie zur Inklusion von ZuzüglerInnen und Leerstandsreduktion im Waldviertel geforscht. Bild: Luiza Puiu.

Sind diverse gesellschaftliche Aufgaben leichter zu erfüllen, wenn man sie mit diesen sozialen Momenten des gemeinsamen Essens koppelt?
Es hat sich jedenfalls in der Menschheitsgeschichte bewährt. Man sieht ja, dass Essen im Zusammenhang mit sozialem Zusammenhalt eine große Rolle spielt. Da kommen die Leute zusammen. Den meisten Leuten – das kann man auch kritisch sehen – fällt als erstes, wenn es um andere Kulturen geht, das Essen ein. Und auch wenn es nicht alle wahrhaben wollen: Unsere Essgewohnheiten sind sehr divers und von sehr vielen unterschiedlichen Einflüssen geprägt. Insofern sind Vorschläge, welche Art von Küche gefördert werden sollte, ein bisschen lächerlich. Man muss sich nur mal genau fragen, woher denn diverse Gerichte überhaupt kommen? 

Brauchen inklusive Wirtshäuser also unbedingt ein vielseitiges Speisenangebot? 
Um es systematischer anzugehen: Ich sehe, was das Thema Wirtshaus und Inklusion betrifft, drei Ebenen. Erstens gibt es die Ebene des Ortes an sich: Wie er gestaltet wird und wie willkommen und wie wohl sich unterschiedliche Leute dort fühlen. Dazu gehört auch das Angebot an Speisen und Getränken. Wer wird von diesem Angebot vielleicht ausgeschlossen? Wenn es zum Beispiel nur Gerichte mit Fleisch gibt, sind alle, die vegetarisch oder vegan oder aus religiösen Gründen bestimmtes Fleisch nicht essen, ausgeschlossen. Ähnliches gilt für Unverträglichkeiten.
Zweites gibt es die Ebene der Gäste und Gästinnen: Wer ist willkommen? Wer ist nicht willkommen und wie wird das kommuniziert? 
Und dann gibt es drittens im Wirtshaus natürlich die Ebene der Menschen, die dort arbeiten. Die ist meist schon von einer gewissen Diversität gekennzeichnet, aber nicht unbedingt von Inklusion oder von Gleichberechtigung, sondern da spiegeln sich natürlich Machtverhältnisse wieder. Plakativ gesagt: Menschen, die in manchen Wirtshäusern vielleicht als Gäste nicht unbedingt so gern gesehen sind, findet man dort  durchaus in der Küche. 

Wer das eigene Wirtshaus zu einem inklusiveren Ort machen will, soll also mit der Organisation und Einbindung der MitarbeiterInnen beginnen? 
Wir können nicht über Inklusion reden und uns nur einen Aspekt vom Wirtshaus anschauen. In der Integration, geht es eher darum, einzelne Menschen – positiv formuliert – in die Lage zu versetzen, – negativ gesagt – so zuzurichten, dass sie in ein System passen. Während es bei der Inklusion darum geht, ein bestimmtes System (einen Ort oder eine Organisation) so zu verändern, dass sich alle in ihrer Unterschiedlichkeit dort wohlfühlen und miteinander agieren können. Das ist das Wesen und der Kern der Inklusion. Wenn man über Inklusion im Wirtshaus redet, muss ich das Ganze sehen – die  Menschen, die dort arbeiten, die Menschen, die dort konsumieren, aber auch das Angebot, das es dort gibt.

Welche Wirtshäuser würden Sie denn gerne fördern?
Naja, Wirtshäuser, die genau das im Blick haben. Die Orte sein wollen, wo – ‚alle‘ ist immer sehr großer Begriff – möglichst viele Menschen gut versorgt werden können und sich dort einfach gerne aufhalten und miteinander ihre Gemeinschaft pflegen. 

Was könnte eine Maßnahme sein, um das zu fördern? Woran kann man das festmachen, dass Inklusion gefördert wird? 
Man könnte einen Fördertopf ausschütten für inklusive Wirtshäuser, und sie damit unterstützen, ein Konzept zu erstellen, das auf den genannten Ebenen der MitarbeiterInnen und eines diversen Angebots inklusive Ideen umsetzt. Wenn das dazu führt, dass viele unterschiedliche BewohnerInnen sich dort wohlfühlen, dann ist Inklusion gelungen. 

Gibt es einen Widerspruch zwischen diesem Bedürfnis nach dem Bewahren des kulturellen Erbes und dem diversen Wirtshausangebot?
Da würde ich zunächst gerne über Kultur an sich reden. Was ist denn niederösterreichische Kultur? Es ist ja ein extrem plattes Kulturverständnis, das die derzeitigen Gespräche darüber bestimmt. Geht es um die Kultur einer Dozentin an der Fachhochschule oder von einer Weinbäuerin mit einem kleinen Weingarten im Weinviertel oder die der Landeshauptfrau? Die leben ja ganz anders. Der Kulturbegriff, der hier verwendet wird, ist extrem fragwürdig. Und man muss sich hier schon die Frage stellen: Was will man damit erreichen? Was soll der Sinn davon sein?
Außerdem muss man das alles kontextbezogen anschauen: Es geht ja nicht darum, vorzuschreiben, dass alle Wirtshäuser jede Küchenrichtung anbieten müssen. Natürlich kann es auch spezifische Angebote geben, aber auch die können dann wieder mehr oder weniger inklusiv sein.
Natürlich braucht es zum Beispiel Lokale, die vor allem Jugendliche ansprechen. Da kann man dann aber diejenigen fördern, die darauf schauen, dass sie wirklich Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Geschlechter ansprechen. Und genauso kann man spezielle Küchen inklusiv anbieten. Wenn ich ein Wirtshaus habe und gern österreichische Küche anbieten würde, denn das ist meine Spezialität, dann geht es darum, zu überlegen: Ja und wie? Was bedeutet das? Wie kann ich die österreichische Küche so gestalten, dass möglichst viele gut bei mir essen können? 
Wichtig ist da vor allem die Intention und ein Bewusstsein für Inklusion. Dann wird schnell klar, dass auch die österreichische Küche genügend vegetarische und vegane Gerichte bietet, ohne dass ich moderne Ersatzprodukte brauche. 

»Auch wenn ich österreichische Küche anbiete, geht es darum: Wie kann ich die österreichische Küche so gestalten, dass möglichst viele gut bei mir essen können?«

Michaela Moser

Also die Absicht zur Inklusion wirkt bereits inklusiv? Was können BetreiberInnen von Gastronomiebetrieben im eigenen und im öffentlichen Interesse tun, um für möglichst viele KundInnen attraktiv zu sein? 
Die Absicht zeigt sich ja dann im Speiseangebot, wenn ich eben z. B. auch vegane österreichische Klassiker anbiete und solche, in denen kein Fleisch enthalten ist. Da gibt es viele positive Ansätze und es wäre schön, wenn diese Art von Kreativität gefördert würde. Und ich denke, es gibt in Niederösterreich sicher genug Wirtsleute, die da Interesse haben, etwas in die Richtung zu machen und das von der Politik auch gestärkt wird.

Wodurch?
Man könnte einen Inklusionspreis für Wirtshäuser vergeben. Ich bin mir sicher, es gibt etliche WirtInnen in Niederösterreich, denen da was einfällt und über die wird dann auch positiv berichtet. Bei den angekündigten Maßnahmen geht es leider weder darum, Inklusion zu fördern, noch darum, die österreichische Esskultur in ihrer Vielfalt zu fördern.

Was fehlt in Ihren Augen für entsprechende Glaubwürdigkeit?
Es wäre gut aufzuhören, so zu tun, als würden wir uns nicht schon divers ernähren. Und zum Nachdenken darüber anregen: Was ist österreichische Esskultur oder Speisekultur und woher kommt das alles? Woher kommen die Speisen, die hier gemeint sind und ´wer isst das denn jeden Tag  Also am Sonntag Schnitzel, am Montag Gröstl, am Dienstag Schweinsbraten, am Mittwoch Grießkoch und am Donnerstag Palatschinken. Wer ernährt sich denn so? 
Im Grunde muss man sich nur anschauen, was die Leute – auch in Niederösterreich – im Alltag so essen. Die meisten kaufen sich auch ein Kebab und mögen Pizza und Pasta oder Sushi, Und das wahrscheinlich auch sehr gerne. Und wenn  es wirklich darum geht, so etwas wie „die österreichische Küche“ zu bewahren, müssen wir sie zumindest auch  in ihrer ganzen Vielfalt fördern.

Also nicht nur die zehn bis 20 Wirtshausklassiker? 
Damit wird man der Vielfalt sicher nicht gerecht. Vielleicht sollte man jedem niederösterreichischen Haushalt das Kochbuch »Immer schon vegan« schenken. Damit die Breite der pflanzlichen Küche sichtbar wird. In Zeiten der Teuerung wäre es auch besonders lohnend, Community Cooking zu organisieren, also gemeinschaftliche Koch-Events, wo Leute sich über ihre Unterschiede hinweg gemeinsam über verschiedene Rezepte, Fertigkeiten und Tricks, zum Beispiel zum Einkochen und Haltbarmachen austauschen. Wo sie voneinander etwas lernen können, die österreichischen Traditionen des Einkochens weitergeben, aber etwa auch Fermentieren und andere Techniken aus unterschiedlichen Küchen austauschen. Gerade, wenn es um die Bewahrung alter Küche geht, sollten man diese in ihrer ganzen Vielfalt zelebrieren. Und dabei auch die Verwendung von regionalen Lebensmitteln fördern. Das gilt auch für den Kochunterricht in Niederösterreichs Schulen und für die Art, wie in Heimen oder Flüchtlingsunterkünften gekocht wird. 
Esskultur war und ist nie etwas Fixes und Feststehendes. Es gehört dazu, dass sich Dinge entwickeln, dass man aber auch vergessene Nahrungsmittel wiederentdeckt, wie zum Beispiel, Steckrüben und die Pastinaken. Es geht einfach darum, insgesamt Vielfalt wertzuschätzen. Da kann man gerne auch mit Vielfalt der eigenen – im Sinne von vertrauten und bekannten – Küche anfangen. Und wenn man die insgesamt positiv sieht, dann tut man sich auch leichter, neue Einflüsse mit rein zu nehmen.

Michaela Moser ist Dozentin an der FH St. Pölten am Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung und forscht u. a. zu Diversität, Partizipation und Entwicklung guter Nachbarschaften. 

BIORAMA Niederösterreich #12

Dieser Artikel ist im BIORAMA Niederösterreich #12 erschienen

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