Strahlende Projektionsfläche
Was macht die Popkultur mit dem Super-GAU?
Der Unfall im AKW Tschernobyl ist in Comics, Filmen, Serien, Musik und auch Games Grundlage ernsthafter Auseinandersetzung, aber auch beliebigen Namedroppings.
In SuperheldInnengeschichten in Comics spielt radioaktive Strahlung eine wichtige Rolle. Nicht nur als Gefahr, sondern auch als Auslöser jener Mutationen und Veränderungen, die aus den Figuren erst SuperheldInnen mit besonderen Fähigkeiten machen. Tschernobyl selbst kommt in Comics relativ selten vor, zumindest in den westlich geprägten. In einer Marvel-Storyline ist das zerstörte Tschernobyl die neue Heimat des Vampirs Dracula und in einer anderen wird die Gegend von der Ninja-Geheimorganisation Hand zerstört. Es gibt aber auch ernsthaftere Graphic Novels, wie das erst 2021 erschienene »The Lost Children of Chernobyl«, in dem Autorin und Zeichnerin Helen Bate zwei ältere Damen, die sich geweigert haben, die Stadt zu verlassen, auf ein Kind treffen lässt, das nach dem Unfall im Wald aufwuchs.
Am 26. April 1986 ist der Reaktor mit der Nummer 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl explodiert. Diese bis dahin größte Katastrophe im Zusammenhang mit Atomenergie beschäftigt bis heute auch Kulturschaffende und ist mal mehr und mal weniger direkt Thema von Comics, Games oder auch Musik. Wie bei praktisch allem anderen, das als Ausgangspunkt für ein Werk herangenommen werden kann, variieren dabei die Ernsthaftigkeit und der Fokus des Interesses. Mal geht es wirklich um den konkreten Unfall oder die Gefahren von Atomenergie, dann wieder sind diese nur vage formulierte Bedrohungen, die als Ausgangspunkt kommerzieller Unterhaltungsprodukte benutzt werden und mit reichlich Fantasie jegliche Realität hinter sich lassen. Gut möglich, dass einige Werke dabei subjektiv als geschmacklos betrachtet werden können.
Film und Serien
Der Unfall ist natürlich Thema zahlreicher Dokumentationen, aber auch Gegenstand ernsthafter fiktionaler Beschäftigung mit dem Thema wie Aufhänger für pure actiongeladene Unterhaltung. Viel Aufmerksamkeit bekam die 2019 veröffentlichte HBO-Miniserie »Chernobyl«. Die amerikanisch-britische Produktion ist bemüht akkurat in vielen technischen Details der Reaktorkatastrophe wie auch im Porträt des sowjetischen Systems und seiner mächtigen wie ohnmächtigen Versuche von Schadensbegrenzung und Vertuschung. Wobei (nach Fukushima) nicht der Fehler gemacht wird, zu suggerieren, der GAU wäre so nur in diesem oder einem ähnlich grausamen und maroden Regime möglich gewesen. Atmosphärisch blitzt in den Details vermutlich nicht immer beabsichtigt ein amerikanischer Blick auf die UdSSR durch.
Die letztlich meist diffuse Bedrohung durch einen Atomunfall oder Anschlag ist aber auch Aufhänger oberflächlicher Unterhaltung. Bereits 1992 ließ Roland Emmerich in »Universal Soldier« Mensch-Maschine-Soldaten in beeindruckenden Kulissen gegeneinander antreten. 2009 in »Universal Soldier: Regeneration« besetzen dann Terroristen die Ruine von Tschernobyl und drohen mit einer Nuklearkatastrophe durch Sprengung des AKW-Reaktors Nummer drei. Actionheld Jean-Claude Van Damme schreitet ein und bekommt wieder Ärger mit Dolph Lundgren. Im Low-Budget-US-Horrorfilm »Chernobyl Diaries« aus dem Jahr 2012 will eine Gruppe junger US-TouristInnen die Stadt Prypjat besuchen und wird nächtens im Sperrgebiet mit menschlichen Wesen konfrontiert, bei denen die Strahlung Mutationen ausgelöst hat und die nun, Zombies nicht unähnlich, Jagd auf die TouristInnen machen. 2021 hat der russische Schauspieler Danila Koslowski mit »Chernobyl: Abyss« sein Regiedebüt abgeliefert – ein eher klassischer Katastrophenfilm ohne darüber hinausgehende Ambitionen.
Nur ein Spiel?
Auch für Computerspiele bietet die Katastrophe von Tschernobyl eine willkommene Kulisse. Die überaus erfolgreiche Shooterserie »Call of Duty« steht dem US-Militär wenig kritisch gegenüber und lässt SpielerInnen in »Modern Warfare« in einer Mission durch das mit Pflanzen wild überwachsene Prypjat schleichen. Eine eindrucksvolle, damals ungewöhnliche Mission, die viele andere Titel und Level inspirierte. »S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl« (Scavenger Trespasser Adventurer Loner Killer Explorer Robber) ist ein First-Person-Shooter mit Horror-Elementen, der 2006 erschien, von einem engagierten Team in der Ukraine entwickelt wurde und einige Nachfolger und Add-ons bekam. Im Setting des Spiels wurde rund um Tschernobyl nach einem weiteren Unfall eine Sperrzone errichtet, in der es zu sogenannten Anomalien und Mutationen kommt und in der die zentrale Figur nach einem Gedächtnisverlust die Vergangenheit erkunden muss. Das Spiel gilt als düsteres Genrehighlight, das die Beschäftigung mit Tschernobyl trotz aller unrealistischen Horrorelemente ernst meint. 2023 soll der gänzlich neue Teil »S.T.A.L.K.E.R. 2: Heart of Chernobyl« erscheinen.
Songs als Reaktion auf die Katastrophe
Der Unfall im AKW in Tschernobyl fällt in die späte Phase des Kalten Kriegs – und so ist vor allem in den Monaten und Jahren danach in vielen Songs die Trennung zwischen den beiden Themen nicht immer klar zu vollziehen. Zu den Musikern, die sich sehr direkt mit Tschernobyl beschäftigt haben oder zumindest im Nachhinein in Interviews diese Lesart nahelegen, gehören unter anderem The Sisters of Mercy (»Dominion/Mother Russia«), Billy Joel (»We Didn‘t Start the Fire«) oder auch Paul Simon (»Can‘t Run But«). David Bowie soll die Aufnahmen zum Album »Never Let Me Down« in den Schweizer Alpen anlässlich des Reaktorunfalls unterbrochen haben, um »Time Will Crawl« zu schreiben, und auch »Panic« von The Smith gilt als sehr direkte Reaktion. Kraftwerk haben in einer Neuaufnahme von »Radioactivity« (ursprünglich 1976) aus dem Jahr 1991 die namentliche Nennung von Tschernobyl neben Hiroshima und anderen nachgeholt.
Selbstverständlich gibt es aber auch viele Songs und Songsammlungen aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die sich dem Unfall widmen. Diese sind aber schlechter dokumentiert und zugänglich, wie die Folk-Song-Sammlung »Collection of Songs about Chernobyl« von Sergei Uryyin aus dem Jahr 1986. Sängerin Alyosha bezieht »Sweet People«, ihren Songcontest-Beitrag der Ukraine aus dem Jahr 2010, auch direkt auf Tschernobyl. Wenig überraschend gibt es im Bereich Metal ziemlich viele Bezüge zur Atomkatastrophe, nicht zuletzt, weil das Genre die Interpretation gerne den Zuhörerenden überlasst und sich damit begnügt, die eine oder andere Grauseligkeit in Ton und Worten zu beschreiben. So auch Kriegsgräuel und Unfälle. Einer der musikalisch interessantesten und jüngsten Beiträge stammt von den New Yorkern Imperial Triumphant. Diese zelebrieren in »Chernobyl Blues« die für sie typische Mischung aus komplexen Rhythmen, ruhigen Klängen, brachialer Gitarrenarbeit und Zachary Ilya Ezrins gutturalen Lauten. Er singt diesmal auf Russisch über sich abschälende Haut und kommt zu dem Schluss: »We‘re children of a deathly god / Fathers of a nuclear dream.«
BIORAMA #80