Into the wild – in the city
Wertvolles Nichts: Die Brache ist ein Ökosystem.
Feldhasen hoppeln durch das Wiener Nordbahnviertel, ein Stadtentwicklungsgebiet auf einem ehemaligen Bahnhof. Sie stammen eigentlich aus einer Brache unweit des stetig wachsenden Hochhäusermeers und verirren sich immer wieder mal in das Neubauareal – ein ungewöhnlicher Anblick in einer großstädtischen Umgebung. Für den Shiatsu-Praktiker Peter Rippl gehören die Hasen praktisch zum Inventar des Viertels. Als er 2011 mit seiner Familie hierherzog, fühlte er sich an die Sehnsuchtsorte seiner Kindheit – die Gstettn – erinnert, inoffizieller Abenteuerspielplatz für Generationen von Kindern. Für ihn war es daher sehr schnell klar, dass er sich für den Erhalt dieser Fläche mitten in dem neu entstehenden Stadtviertel einsetzen wollte.
Auf dem Areal des 1838 als ersten Bahnhof Österreichs eröffneten und nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend vom Güterverkehr genützten Wiener Nordbahnhofs war eine städtische Wildnis entstanden, Heimat für viele seltene Tiere und Pflanzen. Das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs war also zu einer Brache im klassischen Sinne geworden: Seine ursprüngliche Nutzung als Personenbahnhof war sukzessive aufgegeben worden und parallel dazu hatte die Rückeroberung der Natur begonnen sowie eine inoffizielle Nutzung des Areals. So suchten hier etwa Obdachlose Zuflucht und das Gebiet diente auch der Wiener Unterwelt als Rückzugsort. Landschaftsplaner Thomas Proksch erinnert sich, dass der Nordbahnhof bereits ab den 1960er-Jahren als verwunschener Ort galt, den er als Jugendlicher immer wieder mal auf der Suche nach Abenteuern erkundete. Als er dann viele Jahre später zum ökologischen Gutachter des Areals wurde, wusste er bereits, was er zu erwarten hatte: eine riesige Pflanzenwelt auf einem ehemaligen Überschwemmungsgebiet der Donau mit Trockenwiesen, Staudenflächen und schütterer Vegetation auf steinigem Untergrund. Und zahlreiche seltene, zum Teil EU-weit geschützte Tierarten, wie die Wechselkröte, die Zauneidechse oder den Neuntöter, ein im Stadtraum sehr rarer Vogel.
Die ökologischen Untersuchungen der Brache am Nordbahnhof offenbaren: Urbane Räume mögen zwar die naturfernste Form der Landnutzung sein, aber sie schließen nicht von vornherein natürliche Entwicklungsprozesse aus. Im Gegenteil: Städte sind im Vergleich zu offenen Landschaften und Wäldern überaus strukturreich und besiedelt von vielen Pflanzen und Tieren. Das urbane Ökosystem kann sich im Bestand und Aufbau mitunter natürlicher entwickeln als land- und forstwirtschaftliche Flächen außerhalb der Stadt, die ökonomischen Interessen unterworfen sind.
Was sich am Nordbahnhof auch zeigt: Ein wirtschaftlicher Strukturwandel steht oft am Anfang der Entstehung einer Gstettn. Geradezu prädestiniert dafür sind eben zum Beispiel Bahnhöfe, die aufgelassen, Schottergruben, die geschlossen, oder Produktionsstätten und Gewerbebetriebe, die liquidiert wurden. In ihrer Größe sind diese Areale sehr unterschiedlich, manche gar nicht kartographisch erfasst. Und egal ob es weitläufige Industriebrachen oder vereinzelte Baulücken im innenstädtischen Bereich sind – aus stadtplanerischer Sicht wurden die Brachen früher meistens als struktureller Missstand wahrgenommen, weil die Flächen nicht genutzt werden. Zumindest nicht ihrer Widmung entsprechend.
Brache brachliegen lassen
»Eine Gstettn ist ein flüchtiger, temporärer Ort, der ständiger Veränderung unterworfen ist.«
Willfried Doppler, Autor »Gstettenführer«
Doch hier hat ein Umdenken begonnen, wie man an der weiteren Entwicklung der Brache am Nordbahnhof sehen kann: Sie wird inzwischen »Freie Mitte« genannt und hat damit einen offiziellen Namen erhalten. Als »E-Natur- und Erholungsraum« gewidmet und nicht als »EPK – Erholungsraum Parkgebiet«, wie Parkanlagen normalerweise gewidmet werden, ist die Stadtwildnis – wenn auch in verkleinerter und »gezähmter« Form – in das Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhofviertel integriert worden. Die »Parkanlage Nordbahnhof – Freie Mitte« ist Teil der Grünraumoffensive der Wiener Stadtregierung, die angekündigt hat, bis 2025 rund 400.000 Quadratmeter Grün durch gänzlich neue und erneuerte Parkflächen zu schaffen. Der erste, 14.0000 Quadratmeter große Teilbereich der Freien Mitte ist nun seit Ende November 2021 ist für BesucherInnen zugänglich
Bei der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Brachen scheint sich ein Umbruch vollzogen zu haben und damit der Wunsch, anders mit ihnen umzugehen: Traditionell haftete Gstettn in Wien ein negatives Image von Verfall, Verwahrlosung und wirtschaftlichem Niedergang an, was aber in den vergangenen Jahren vor allem vor dem Hintergrund von Artensterben, aber auch Klimaerwärmung und den damit einhergehenden Herausforderungen für das Mikroklima und das Leben in der Stadt in ein wachsendes Bewusstsein für den städtebaulichen Wert dieser immer rarer werdenden Flächen gemündet ist.
Einen Anteil daran hat nicht zuletzt die Wiener Umweltanwaltschaft, die in inzwischen mehrfacher Auflage einen »Gstettenführer« herausgegeben hat, in dem sie verwilderte Freiräume vorstellt und ihre Geschichte erzählt. Laut Wilfried Doppler, einem der Autoren des Führers, soll diese Dokumentation jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass Brachen für die Ewigkeit bestimmt sind. Ganz im Gegenteil: Eine Gstettn ist ein flüchtiger, temporärer Ort, der ständiger Veränderung unterworfen ist. Allerdings vollziehen sich diese Transformationsprozesse immer schneller: Während bis vor einigen Jahren auch in Städten wie Wien eine Baulücke mitunter jahrzehntelang frei blieb, weil andere, allenfalls attraktivere Flächen verfügbar waren, wird sie inzwischen oft schon nach wenigen Monaten wieder geschlossen – der Stadtnatur bleibt bei dieser Geschwindigkeit keine Chance, sich zu entfalten.
Der Brache geht es auch in Berlin nicht besser. Auch diese Stadt kämpft gegen zunehmende Flächenversiegelung – die Bautätigkeit der vergangenen Jahre hat die Stadtwildnisflächen rar gemacht. Die deutsche Metropole verfügt gleichzeitig über eine lange zurückreichende Tradition der Aneignung und neuen Nutzung von Gstettn, Brachen, Baulücken und leerstehenden Gebäuden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden hier weite Brachflächen mit unkontrolliert wachsenden Pflanzen- und Tierpopulationen. Das hat geopolitische Gründe und ist auf die Kriegszerstörungen sowie auf die Teilung der Stadt zurückzuführen. Im Westen der Stadt führte der Mauerbau zur Entstehung von Brachen, weil industrielle Produktionsstätten aufgegeben und nicht weiter genutzt wurden. Berlin und seine BewohnerInnen haben ein Potenzial von Brachen also schon länger erkannt. Nach 1989 entstanden wiederum im Osten neue ungenützte Flächen, nachdem das Wirtschaftssystem der DDR an sein Ende gekommen war und viele Industriestandorte sich selbst überlassen worden waren. Der Abriss der Mauer und die Öffnung des bis zu 50 Meter breiten Mauerstreifens ließen weitere Brachen entstehen. Trotz des Immobilienbooms finden sich bis heute Überreste dieser Flächen. Pionierhaft haben Westberliner StadtökologInnen bereits ab den 1970er-Jahren begonnen, die Pflanzen- und Tierwelt in diesen Arealen zu untersuchen. Aus der vom West-Senat unterstützten Biotopklassifizierung und -kartierung entwickelten sich 1984 die Grundlagen für das Artenschutzprogramm Berlins, das nach der Wende für die ganze Stadt Bedeutung erlangte und eine neue Ästhetik urbaner Natur unterstützte.
Der Biologe Ingo Kowarik erforscht Berlins Stadtnatur seit bald vierzig Jahren und war als langjähriger Landesbeauftragter Berlins für Naturschutz in die Entstehung einiger sehr naturnaher Parkanlagen involviert, wie etwa des Parks am Gleisdreieck, der ebenfalls auf einer großen Bahn-Brache entstand.
Anders wild
Stadtwildnis bezeichnet er als Natur der vierten Art, damit meint er eine spezifische städtische Ruderalvegetation, die nicht geplant wurde, deren Entwicklung ebenso ohne Plan verlief, die zwar von menschlichen Eingriffen beeinflusst, aber nicht bewusst gesteuert wird.
Die Ruderalvegetation folgt dabei stets dem Prinzip der Sukzession. In ihrem Verlauf dominiert ein bestimmter Pflanzentyp eine Zeitlang, bis andere Pflanzen auftreten und ein neues Stadium beginnt. Die erste Besiedlungswelle übernehmen in der Regel kurzlebige, einjährige »Pionierpflanzen« wie etwa der Kompasslattich, Portulak oder Mohn sowie Neophyten – das heißt mehr oder weniger »neu« zugewanderte Arten. Anschließend bestimmen länger lebende »Egoisten« und »Unverwüstliche« die Vegetation – wie etwa Disteln oder, bei besonders trockenen Standorten, Trockenrasen. Nach fünf bis zehn Jahren beginnen sich Büsche und Bäume auszubreiten. Falls Robinien oder Götterbäume darunter sind, hat anderes Gehölz kaum eine Chance mehr.
Ruderalflächen sind Rohbodenflächen, die natürlichen Ursprungs – etwa durch einen Erdrutsch – oder menschengemacht, etwa ungenutzte ehemalige Industrieflächen, sein können.
Invasive Arten wie der genannte Götterbaum, die auf die Herausforderungen der Klimaerwärmung oftmals besser vorbereitet sind als heimische Pflanzen, kommen in Brachen generell häufiger vor als in der freien Wildbahn. Doch da es sich bei diesen Flächen meistens um in sich geschlossene Lebensräume handelt, die nicht in direkter Verbindung zu anderen Naturräumen stehen, ist die Gefahr der Ausbreitung bzw. Verdrängung einheimischer Pflanzen geringer als meist angenommen.
Grünflächenverteilungsgerechtigkeit
»Die durch den Fall der Mauer frei gewordenen Flächen befinden sich wiederum größtenteils in mit Grünflächen unterversorgten Gebieten.«
Ingo Kowarik, Biologe in Berlin
Für Ingo Kowarik hat sich in den vergangenen Jahren jedenfalls herauskristallisiert, dass die Brachen auf dem ehemaligen Mauerstreifen das Potenzial für mehr Umweltgerechtigkeit in Berlin haben. Denn auch wenn Berlin das Image einer grünen Stadt hat und 41 Prozent des Stadtgebiets aus Wald, Gewässern, Parks und anderen Grünflächen bestehen, so ist dieses Grün dennoch sehr ungerecht in der Stadt verteilt. Die durch den Fall der Mauer frei gewordenen Flächen befinden sich wiederum größtenteils in mit Grünflächen unterversorgten Gebieten, insofern sieht Kowarik hier die Lösung für ein sozialökologisches Problem.
Die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz der Stadt Berlin hat 2010 begonnen, ungenützte versiegelte Flächen zu erfassen und in den digitalen Umweltatlas der Stadt Berlin einzuarbeiten. In der Verfolgung der Zielsetzung der Berliner Regierung, »spätestens ab 2030 eine Netto-Null-Versieglung« zu verfolgen, oder der Forderung etwa der Umweltorganisation BUND (Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V.) aus dem Dezember 2021, dies bis 2030 zu erreichen, können hier – in der BenutzerInnenfreundlichkeit noch ausbaufähig – jene Flächen identifiziert werden, die im »Tausch« für Neuversiegelungen entsiegelt werden könnten. Samt Einschätzung zum Entsiegelungspotenzial eines Gebietes wie auch den Grundlagen zur Berechnung deren Kosten. Erhoben haben das die Behörden, um selbst priorisieren zu können, wo begonnen wird. Das Informationsangebot richtet sich aber explizit auch an InvestorInnen, EigentümerInnen und Planungsbüros. An alle, für die ein biodiversitätsfreundlicher Umgang mit Boden ein Ziel ist.
Wildnis und Kultur stehen nur scheinbar in einem Widerspruch, wie wir in den Brachen unserer Städte sehen können. Sie sind weiße Flecken innerhalb der komplett durchgestalteten Welt voller Regeln und Standards, in der wir leben und uns für gewöhnlich bewegen. In der Stadt gibt zudem der Konsum vor, was man wie und wo tut. Städtische Räume unterliegen außerdem immer einer sehr klar abgesteckten funktionalen Nutzung: Parkplätze sind für Autos da; eingezäunte Spielplätze für Kinder und so weiter. Und davon sind selbst Teile der Natur nicht ausgenommen: Bäume werden zur Beschattung gepflanzt, Rasen ist nur zum Anschauen da und jegliches Unkraut wird entfernt. Gstettn hingegen erscheinen wie Nichtorte innerhalb dieser kontrollierten Umwelt – bis sie wieder von Menschen gestaltet werden.
Unter berlin.de/umweltatlas können im Bereich »Boden« direkt nach den Versiegelungsgeodaten auch jene zu Entsiegelungspotenzialen eingesehen werden.BIORAMA Wien–Berlin #2