Neue Wiener Heurigenkultur
Neben »heurigen« Erdäpfeln gedeihen in den Wiener Außenbezirken auch Tofu-Soja, Braugerste und Fenchel.
Dass Wien die einzige Weltstadt ist, auf deren Hängen Wein wächst, wird von der Tourismuswerbung wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Was aber selbst alteingesessene WienerInnen oft überrascht: Es werden da draußen, wo sich die Reihenhäuser ins Ackerland fressen und mittlerweile U-Bahnen in Stadterweiterungsgebiete führen, auch allerlei Feldfrüchte, Erdäpfel und Glashausgemüse angebaut. Schon seit Jahrhunderten. Zum Lokalkolorit der Vorstadt tragen also nicht nur Weingärten und Heurigenkultur bei, sondern auch die Äcker, aus denen im Hochsommer die ersten »Heurigen« gegraben werden. So heißt hier im Osten Österreichs die erste Erdäpfelausbeute einer Erntesaison: eher kleine, besonders aromatische Kartoffeln, die ungeschält gegessen werden können. Einziger Nachteil: Sie sind deshalb nicht lange lagerfähig und sollten bald verarbeitet werden. Auch sonst blüht und gedeiht die Vielfalt auf Wiens Feldern. Im äußersten Favoriten, dem südlichsten Stadtteil, wächst Fenchel im Vertragsanbau für Sonnentor ebenso wie Braugerste für Ottakringer oder Soja. Gleich auf ganzen 30 Hektar wachsen 2021 Sojabohnen, die im Spätherbst für einen großen Vermarkter erstmals zu Tofu aus der Großstadt verarbeitet werden sollen. Arbeitstitel des stolz von der Landwirtschaftskammer angekündigten Projekts »Wiener Bio-Soja«.
»Durch die Frostschäden im Frühling fällt die Erdäpfelernte etwas geringer aus als ursprünglich erwartet.«
Klaudia Atzmüller, Geschäftsführerin von Ja! Natürlich
Bioanbau ist in Wien weiter verbreitet als in den meisten anderen Bundesländern. Bereits mehr als 35 Prozent der Anbauflächen sind biozertifiziert. Einer der ersten Betriebe, die im Stadtgebiet mit Bio experimentiert haben, ist das Bio-Zentrum Lobau der Stadt Wien. Es bewirtschaftet insgesamt weit verstreut liegende 900 Hektar Ackerland und hat sich bereits 1978 der ökologischen Landwirtschaft verschrieben. Gedacht wird in Kreisläufen (hier landet als Dünger auch der Kompost, den die WienerInnen in ihren Tonnen sammeln); geerntet werden vor allem Getreide, aber auch Erdäpfel. Bis in die Sechzigerjahre wurden auf dem Gelände des Hauptstandorts, einer ehemaligen k. u. k. Kaserne, mehrere Hundert Milchkühe gehalten. Doch Viehhaltung gehört in Wien weitgehend der Vergangenheit an. Wobei in Floridsdorf, im transdanubischen Norden der Stadt, ein Biobetrieb sogar einen Stallneubau gewagt hat. Der Biohof Maurer setzt künftig – durchaus konfliktträchtig im Stadtgebiet – auf Schweinehaltung. »Von der Zucht über die Mast bis zur Schlachtung und Direktvermarktung werden wir alles vor Ort haben«, sagt Andreas Maurer. »Auch das Futter wird so weit wie möglich aus Wien stammen.« Erste Ferkel gibt es bereits in Floridsdorf, bis die Herde groß genug zur Zucht ist und im größeren Stil Sauen schlachtreif sind, dauert es aber mindestens noch bis 2022.
Besonders aktiv bei der Vermarktung unveredelter Produkte der städtischen Landwirtschaft tut sich Ja! Natürlich, hervor, die Premiummarke der Rewe-Gruppe für Bioprodukte. Mitten im Sommer brachte man erstmals »Heurige« direkt aus Wien in den Handel. Auf 15 Hektar hat das Bio-Zentrum Lobau auf den fruchtbaren Auböden, die zum Teil bereits im Nationalpark Donau-Auen liegen, frühreife Erdäpfel für Ja! Natürlich angebaut. 300 bis 400 Tonnen Erdäpfel dürften dort bis Spätsommer geerntet werden. »Durch die Frostschäden im Frühling fällt die Erdäpfelernte etwas geringer aus als ursprünglich erwartet«, bedauert Klaudia Atzmüller, die Geschäftsführerin von Ja! Natürlich.
»Die Wiener Auböden sind ideal für den Anbau von Erdäpfeln. Ohne Bewässerung wäre hier heuer aber nichts gewachsen.«
Karl Mayer, Gutsverwalter des Bio-Zentrums Lobau
Doch auch wenn es Bewässerung brauche: »Die Wiener Auböden sind ideal für den Anbau von Erdäpfeln«, sagt Karl Mayer, der Gutsverwalter des Bio-Zentrums Lobau. Dass Bioerdäpfel in Wien angebaut werden, ist nichts grundsätzlich Neues. Bislang landeten sie vor allem anonym in den Küchen der kommunalen PensionistInnenheime. Klaudia Atzmüller sieht mit dem neuen Angebot »das in Pandemiezeiten noch einmal gewachsene Bedürfnis der KonsumentInnen nach hochwertigen regionalen und saisonalen Bioprodukten« befriedigt. Wenn bis zu 150.000 Verpackungseinheiten frischer Früherdäpfel aus Wien in den Supermärkten landen, dann trägt das außerdem massiv zur Bewusstseinsbildung bei. Denn aus Gesichtspunkten der Raumplanung ist Urban Farming in einer wachsenden Weltstadt längst keine Selbstverständlichkeit mehr. »Der Druck auf die Flächen ist enorm«, sagt Franz Windisch, Präsident der lokalen Landwirtschaftskammer. Er weiß von ImmobilienentwicklerInnen, die regelmäßig bei Bäuerinnen und Bauern anrufen – und ganze Höfe kaufen und in Siedlungsgebiet umwandeln wollen. Um auf Produkten und im Handel Sichtbarkeit für die Erzeugnisse der 645 landwirtschaftlichen Betriebe der Stadt zu schaffen, hat seine Standesvertretung mit »Stadternte« vor Kurzem auch eine eigene Marke geschaffen. Sie wird vor allem in der Direktvermarktung verwendet, von konventionellen wie von Biobetrieben. Der Gedanke dahinter: Nur wenn KonsumentInnen bei vollem Bewusstsein zu lokalen Erzeugnissen aus Wien greifen, werden sich die für eine Stadtlandwirtschaft nötigen Ackerflächen auch für die Zukunft erhalten lassen. Damit nicht nur Wien wächst und gedeiht, sondern am Stadtrand auch künftig Platz für Wein, Braugerste und Erdäpfel bleibt. Und vielleicht wird auch die neue Wiener Heurigen-Kultur irgendwann vom Tourismus entdeckt.
BIORAMA #74