Überfluss bei Ladenschluss

Ein Drittel aller Lebensmittel landet im Müll. Um die wachsende Weltbevölkerung ökologischer ernähren zu können, muss diese Verschwendung weniger werden. Warum der kleinste Player – der Handel – der entscheidende ist.

Foodwaste
Geschätzt ein Drittel aller produzierten Lebensmittel wird zu Foodwaste, in Deutschland sind private Haushalte für die Hälfte aller Verluste verantwortlich. Bild: iStock.com/Animaflora, iStock.com/chpua, iStock.com/Vladislav Popov, iStock.com/Nadiinko, iStock.com/fonikum, iStock.com/rambo182.

Frankreich machte 2016 den Anfang. Tschechien zog 2018 nach und 2019 wies das Verfassungsgericht in Prag sogar eine Klage zurück, die das Gesetz wieder kübeln wollte: Supermärkten und Diskontern ist es in beiden Ländern verboten, Lebensmittel einfach im Müll zu entsorgen. Stattdessen muss, was noch gegessen werden kann, an soziale Einrichtungen gespendet werden. Global haben die Vereinten Nationen ein ehrgeiziges Ziel vorgegeben: Bis 2030 sollen die Lebensmittelabfälle halbiert werden. Denn geschätzt ein Drittel aller produzierten Lebensmittel wird zu Foodwaste. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, aber man rechnet mit 1,3 Milliarden Tonnen an Genießbarem, die Jahr für Jahr verloren gehen. Diese Verluste – die Wissenschaft fasst sie als »Food Loss and Waste« zusammen – spielen mit eine Rolle bei der Beantwortung der Frage, ob sich eine wachsende Weltbevölkerung mit weniger intensiv und dafür umweltschonend produzierten Biolebensmitteln ernähren ließe. Nur wenn wir weniger Fleisch essen und insgesamt weniger vergeuden, so der Tenor.

95 Kilo Foodwaste pro EuropäerIn

Zwar gibt es keine wirklich präzise und einheitliche Definition, was genau als Foodwaste gilt. In der EU zählen beispielsweise Feldfrüchte, die aufgrund einer Überproduktion und fehlender Nachfrage gar nicht erst geerntet werden, noch nicht zu den Lebensmitteln, während die Definition der FAO (Food & Agriculture Organization) bereits bei »reif für die Ernte« beginnt. Die hochgerechneten Zahlen der »Lebensmittel, die nicht ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend verwertet werden«, sind jedenfalls alarmierend: In der EU gehen pro Kopf 95 Kilogramm verloren, in den USA 115 Kilogramm. Im südlichen Afrika sind es nur 6 Kilogramm, in den Ländern Südostasiens knapp doppelt so viel.
An welcher Stelle des Lebensmittelsystems das Leck am größten ist, variiert von Land zu Land. Am Thünen-Institut der Bundesrepublik in Braunschweig ermittelte man 2015, dass in Deutschland 12 Prozent der Verluste bereits in der Landwirtschaft und der Fischerei passieren. 18 Prozent gehen in der Verarbeitung, 14 Prozent in der Gastronomie verloren. Die 4 Prozent des Handels klingen bescheiden angesichts der 52 Prozent, die aus privaten Küchen, Kredenzen und Kühlschränken im Müll landen.

Krumme Gurken, fehlende Daten

Dennoch ist es sinnvoll, dass die Politik den Handel in die Pflicht nimmt. Denn erstens profitieren Handelsunternehmen unmittelbar davon, wenn Gekauftes nicht gegessen und neue Lebensmittel benötigt werden. Und zweitens ist der Handel auch für einen Teil des Foodwaste, der in der landwirtschaftlichen Produktion oder in den Produktions- und Vermarktungsbetrieben anfällt, mitverantwortlich. Etwa dann, wenn Obst und Gemüse nicht den Handelsnormen entspricht oder den ästhetischen Gewohnheiten nicht gerecht wird. In Mitteleuropa vermarkten einige Handelsunternehmen einen Teil des Obsts und Gemüses abseits der Norm zwar seit einiger Zeit unter klingenden Namen wie »Krumme Gurken« (Hofer/Aldi Süd) oder »Wunderlinge« (Rewe Österreich). Wirklich ins Gewicht dürften diese Initiativen aber vorerst nicht fallen. Für Hans Ackerl sind sie sogar »lächerlich« angesichts dessen, was wirklich draußen auf dem Feld bleibt. Ackerl ist Biobauer und vermarktet mit seinem Unternehmen Pur Organics das Gemüse von 110 Biobäuerinnen und Biobauern in Österreich. Direkt oder indirekt beliefert er alle Supermärkte und Diskonter im Land. »Was am Acker wächst, ist weit entfernt von dem, was im Handel landet«, sagt er. Bei Karotten lande überhaupt nur die Hälfte im Handel. Und manchmal nicht einmal die. Warum, das rechnet der Biobauer an einem Beispiel vor: »Auf einem Hektar wachsen 1.600.000 Karotten. Wenn jetzt nach einem Starkregen die Karottenköpfe an den oberen 1,5 Zentimetern grün sind, ist das für die Qualität unerheblich, im Handel aber ein K.-o.-Kriterium. Wenn das bei 20 Prozent der Fall ist, wäre es teurer, diese 320.000 Karotten nach der Ernte auszusortieren, als der Ertrag für die verbleibenden 80 Prozent ausmacht. Deshalb werden 100 Prozent eingeackert – weil der Faktor CO2 wie beim Verkehr nie eingepreist ist.« Dennoch sei, so Ackerl, »nicht bloß der böse Handel an allem schuld«. Er könne ordnerweise ausgedruckte Mails vorlegen, in denen ihn KonsumentInnen beschimpfen, weil in einer Tasse Gemüse ein einziges Stück ein wenig anders ausgesehen habe. Auf Basis seiner 20 Jahre Erfahrung schätzt Ackerl, dass ein Viertel aller Feldfrüchte gar nicht geerntet oder gleich nach der Ernte vernichtet wird.

Gemüseverarbeitung bei der Lebenshilfe Tirol.
Lokale Lösung: Gemüse, das es aus ästhetischen Gründen nicht in den Handel schafft, wird von der Genossenschaft »feld:schafft« zu Suppenwürze verarbeitet und im »Lunchhaus« der Lebenshilfe Tirol verkocht. Bild: Lebenshilfe Tirol.

»Wie hoch dieser Anteil wirklich ist, da tappen wir leider weltweit im Dunkeln«, sagt Felicitas Schneider, die von Braunschweig aus eine globale Initiative zur Verringerung von Foodwaste koordiniert. Weshalb das am Thünen-Institut gesammelte Know-how und die daraus gezogenen Schlüsse weltweit zum Einsatz kommen. Neben regelmäßigen Updates und der Vorstellung von mustergültigen Initiativen (etwa der deutschen Kampagne »Zu gut für die Tonne!« des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft) geht es auch um das Zusammentragen von Daten. Oft sind die in einem Land gesammelten Daten nicht mit jenen anderer Länder vergleichbar, Erhebungen und Befragungen sind aufwendig. Das Problembewusstsein der Bevölkerung in Dubai ist ein anderes als in Skandinavien. Verschwendung gibt es zwar ausnahmslos überall. In Mitteleuropa und Nordamerika sieht Biovermarkter Hans Ackerl die regionalen ProduzentInnen aber besonders unter Druck: »In Hochpreisländer wie Deutschland und Österreich werden von überall her nur die schönen Filetstücke importiert – das gilt für Knoblauch aus Spanien genauso wie für Kartoffeln aus Ägypten. Deshalb gibt es keinen Markt abseits des Instagram-Tauglichen.«

Einfache Gleichung: Weniger Müll, mehr Gewinn

»Ganz ohne Überschüsse und Verluste wird es zwar nie gehen«, sagt Felicitas Schneider. Aber es sei offensichtlich, dass die Handelsunternehmen einiges daransetzen, Verluste zu reduzieren – zumindest was jene Ware angeht, die über alle Hürden hinweg in ihren Filialen gelandet ist. Das hat einen einfachen Grund: Dort zahlt es sich aus, Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Das zeigte ein über einen Zeitraum von sechs Jahren in Großbritannien durchgeführtes Monitoring. »Für jedes eingesetzte Englische Pfund konnten im Durchschnitt 14 Pfund eingespart werden«, heißt es in einem im Herbst 2020 erschienenen Arbeitspapier aus Braunschweig.
»Überschüssige Lebensmittel wegzuwerfen ist nicht nur unter ökologischen Gesichtspunkten kritisch, sondern stellt auch ein wirtschaftliches Verlustgeschäft dar«, verlautet Stefanie Adler aus der Hamburger Edeka-Zentrale – und verweist darauf, dass »bereits bei der Beschaffung digitale Warenwirtschaftssysteme durch ein optimiertes Warenmanagement dazu beitragen, die Abschriften um bis zu 56 Prozent zu reduzieren«. Lidl Deutschland möchte seine Lebensmittelverluste bis 2025 um 30 Prozent reduzieren. Was öffentlichkeitswirksam unter dem Namen »Lidl-Lebensmittelrettung« firmiert, basiert auch hier, so Sprecherin Melanie Pöter, auf einem »ganzheitlichen Systemansatz entlang der Wertschöpfungskette«. Die Kundschaft selbst bekommt von alldem freilich vor allem in Form von reduzierter Ware etwas mit. Bevor Ware ausgemustert wird, versucht man sie vergünstigt abzuverkaufen. In Österreich landet auf solchen Waren bei vielen Filialisten schon seit Jahren ein auffälliger Sticker: »Lebensmittel sind wertvoll.«

Convenienceprodukte im Kühlregal.
Convenienceprodukte sind praktisch, sorgen aber für mehr Foodwaste. Bild: Wasted.

Erschwerend: Convenienceprodukte

Ob Diskonter, Supermarkt oder Biofachhandel: Zwei Entwicklungen arbeiten dem Ziel, Foodwaste zu vermeiden eher entgegen. Am stärksten »der Trend zu Convenience«, so Nicole Berkmann, Sprecherin von Spar Österreich. »Denn hier sind die KundInnen noch sensibler als beim Obst und Gemüse. Ein gefülltes Weckerl (Brötchen, Anm.) kann noch sehr gut sein, aber wenn ein nicht mehr ganz frisches Salatblatt herausschaut, wird es nicht mehr gekauft. Zudem haben diese Produkte, die ready to eat sind, ein sehr kurzes Ablaufdatum. Das ist im täglichen Business nicht ganz einfach.« Selbiges gilt für fix fertigen Quinoasalat aus dem Kühlregal, den abgepackten Rucola für die Mittagspause oder die mit Camembert gefüllte Breze.

Weniger Verpackung, mehr Foodwaste?

Durchaus als ambivalent erachtet Spar auch den Trend zu weniger Verpackung. »Die größten Schwierigkeiten liegen bei den Produkten, die neuerdings aus Plastikspargründen keine Kunststoffverpackung mehr haben. Gurken zum Beispiel«, sagt Nicole Berkmann. »Hier kämpfen wir, dass wir nicht mehr wegwerfen müssen.« Beim Biofachhändler Dennree hingegen sieht man sich durch die KundInnen klar darin bestärkt, Foodwaste zu vermeiden und gleichzeitig »Mehrweglösungen weiter voranzubringen«, sagt Marketingleiter Lukas Nossol. In den Denns-Biomärkten und bei vielen Biomarkt-PartnerInnen dürfen eigene Verpackungen mitgebracht werden, um sie an Käse-, Fleisch- und Backtheken mit Frischwaren befüllen zu lassen. Nicht zuletzt setzt man auf ein breites Angebot an unverpackten Waren – was es auch ermöglicht, dass Singlehaushalte kleine Mengen kaufen können. Auch Rewe Österreich verkauft seine Eigenmarkenprodukte in Bioqualität bei Billa, Merkur, Penny und Adeg verstärkt lose.
Verhältnismäßig ruhig ist es um das Thema »Dumpstern« und »Containern« geworden, das einst für das Problemfeld Foodwaste sensibilisierte. Dass KonsumentInnen selbst weggeworfene Lebensmittel aus den Müllräumen der Märkte holen – vor Jahren eine Bewegung mit subkulturellem Drive –, hat an Bedeutung und medialer Beachtung verloren. Was vor allem daran liegt, dass es kaum mehr eine Filiale gibt, die abgelaufene, aber noch genießbare Ware nicht an lokale Sozialmärkte, Tafeln oder Obdachlosenheime spendet und von diesen abholen lässt. Dennoch gibt es sie noch, die Selbstversorgung aus dem Container. Während es in Deutschland zuletzt sogar vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Verurteilungen wegen schweren Diebstahls gab, geht man in Österreich eher entspannt damit um. »Wir dulden es, solange man keine Unordnung hinterlässt«, heißt es bei Spar.

Brot zu Bier

Auch wenn unvermeidbare Überschüsse gespendet werden, gibt es seitens des Handels auch Ansätze, sie selbst zu verwerten. »Äußerlich weniger perfekte, aber geschmacklich einwandfreie Tomaten werden beispielsweise püriert als Tomatenbasis verarbeitet und in der Obst- und Gemüseabteilung angeboten«, erzählt Melanie Pöter von Lidl Deutschland. Fast überall werden, wie bei Edeka, in vielen Märkten Waren, »die den optischen Erwartungen der VerbraucherInnen weniger entsprechen, aber qualitativ einwandfrei sind, direkt weiterverarbeitet«, erklärt Stefanie Adler – »beispielsweise zu frisch zubereiteten Smoothies, für Früchtebars oder Suppenstationen, die eine individuelle Portionierung ermöglichen«. Rewe Österreich kooperiert mit der Manufaktur »Unverschwendet« und veredelt Überschüssiges aus seiner Obst- und Gemüseabteilung zu Delikatessen. Spar sammelt überschüssiges Biobrot und -gebäck und lässt daraus von der Salzburger Biobrauerei Gusswerk ein Brotbier brauen.

Brotbier vom Salzburger Brauhaus
»Flüssiges Brot«: aus altem, nicht verkauftem Biobrot von Spar braut das Salzburger Brauhaus Gusswerk ein besonders malziges Brotbier. Bild: Eva Trifft Fotografie.

Der Backautomat – besser als sein Ruf?

Quantitativ fallen solche herzeigbaren Initiativen freilich (noch) kaum ins Gewicht. Technologische Ansätze scheinen hier vielversprechender – sowohl was das Verwerten als auch das Vermeiden von Überschüssen angeht. Beliebt und mittlerweile auch weit verbreitet für Rabattaktionen ist die App »Too Good To Go«. Dennree kooperiert in Berlin und Brandenburg ebenso mit der App, über die Überschüssiges und Convenienceprodukte kurz vor Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums vergünstigt zum Selbstabholen abgegeben werden. In Österreich verkündete Spar gerade eine Zusammenarbeit mit dem Start-up.
Eine deutliche Reduktion an Überschüssen brachte auch, worüber Gourmets gerne die Nase rümpfen: die Backautomaten für Brot und Gebäck in den Filialen. In Österreich setzte der Diskonter Hofer bereits 2014 darauf, in seinen Filialen bedarfsgerecht aufzubacken. »An umsatzschwächeren Tagen werden beispielsweise am späteren Nachmittag nur noch einzelne Bleche und keine vollen Öfen mehr gebacken. Dies hilft dabei, dass wir unseren KundInnen bis zum Ladenschluss ofenfrisches Brot und Gebäck anbieten können, jedoch nur Kleinstmengen übrig bleiben«, heißt es aus der Hofer-Zentrale.

Künstliche Intelligenz senkt Kosten

Während man dort auf die Erfahrung der Filialleitung und deren Gespür für Nachfrage und händische Bestellung setzt, hält bei der Konkurrenz auch im Backofen die Digitalisierung Einzug. Rewe Österreich testet in ausgewählten Märkten gerade sein »Smart-Shelf«: Ein punktgenaues Wiegesystem, das automatisch erkennt, wann welches Gebäckstück aus dem Regal entnommen wurde, und diese Information an den angebundenen, ebenfalls automatisierten Backofen schickt. Der liefert daraufhin backfrischen Nachschub. »Hat das intelligente Regalsystem einmal genügend Daten gesammelt, wird die Gebäckproduktion an Wochentage, Uhrzeiten und sogar an das Wetter angepasst«, erklärt Alexander Hell aus der Nachhaltigkeitsabteilung des Konzerns. Zudem verfügt das »Smart-Shelf« über eine dynamische automatisierte Preisanpassungsfunktion: »Sollte gegen Ende der Öffnungszeiten doch noch eine große Menge einer bestimmten Gebäcksorte übrig sein, reduziert das System automatisch den Einkaufspreis, was mehr KundInnen zugreifen lässt.«
Im Biofachhandel setzt man dem Reduktion gegenüber. »Wir haben uns bewusst dazu entschieden, im Bereich Bistro und Backtheke nicht alle Produkte bis Ladenschluss vorrätig haben zu müssen. Das bedeutet, außer Brot und Brötchen können alle anderen Waren schon vor Ladenschluss ausverkauft sein. Das reduziert mögliche Übermengen um ein Vielfaches. NachahmerInnen sehen wir hier gerne«, sagt Lukas Nossol (Dennree).

Sensor prüft Frische von Fleisch

Nichtsdestotrotz dürften selbstlernende Bestellsoftware (Machine Learning) und automatisierte Preisreduktionen, die über digitale Preisschilder ausgespielt werden, bald an Bedeutung gewinnen. »Die Nachfrage in den Filialen ist so komplex, dass künstliche Intelligenz offenbar besser steuern kann als Erfahrung«, meint Felicitas Schneider vom Thünen-Institut. »Man kann ja immer noch händisch eingreifen. International testet der Obstkonzern San Lucar derzeit Fruchtsalate, die von lernenden Kühlschränken nachbestellt werden. Und für Frischfleisch, bei dem die Einhaltung der Kühlkette besonders wichtig ist, werden in Übersee bereits Verpackungen ganz ohne aufgedrucktes Mindesthaltbarkeitsdatum getestet. Winzige Sensoren messen den Anteil an Gasen und Zersetzungsprodukten«, erklärt Schneider. Daran zeigt sich auch das Dilemma mancher Digitalisierungsschritte. Denn die Lösung des einen Problems schafft manchmal gleich ein neues: das Recycling solcher Verpackungen.

Wenig Begeisterung für technikgestützte Preisnachlässe haben die meisten ProduzentInnen. Man befürchtet, dass automatisierte Abverkäufe die Wertschätzung für Lebensmittel nicht steigern, sondern womöglich sogar den gegenteiligen Effekt haben. »Dass zu viel produziert wird und Lebensmittel viel zu billig sind, bleibt ein Systemfehler«, sagt Björn Rasmus. Er ist Geschäftsführer der Vermarktungsgenossenschaft Bioalpin, die mit der Marke Bio vom Berg in Deutschland im Naturkostfachhandel und auf dem Tiroler Heimmarkt auch in Supermärkten wie MPreis vertreten ist: »Es ist den KonsumentInnen einfach zu egal geworden, ob sie von zehn günstig eingekauften Semmeln (Brötchen, Anm.) die Hälfte wegwerfen. Dafür sind auch die 1+1-Aktionen des Handels verantwortlich, weil sie zum Wegwerfen animieren.«

Auch ein anderer Branchenkenner bleibt skeptisch, ob sich das Problem Foodwaste wirklich allein durch Technologie lösen lässt. 15 Jahre hat Martin Gerstl in ganz Europa in der Rewe-Gruppe gearbeitet. Anfangs in der IT, war er zuletzt einige Jahre für die Osteuropastrategie der Gruppe verantwortlich. Heute ist er Unternehmensberater – auch für seine einstige Arbeitgeberin – und engagiert sich ehrenamtlich beim Ernährungsrat Wien. Als Teil dieser zivilgesellschaftlichen Organisation möchte Gerstl das Lebensmittelsystem »umkrempeln«, wie er sagt. »Foodcoops und Unverpackt-Läden sind wichtig und nett, aber sie lösen das Problem nicht.« Es kranke ganz grundsätzlich am System, wie Handel funktioniert und wie dieser die KonsumentInnen erzogen habe. Der Handel habe die größten Hebel in der Hand. Wenn 30 Prozent einer Ernte rein aus optischen Gründen eingeackert werden, wäre das ja vielleicht sogar gut für den Humusgehalt im Boden, »das kostet aber Wasser und Energie, was wir uns als Gesellschaft eigentlich gar nicht leisten können«. Sein Ziel ist deshalb eine re-regionalisierte Produktion mit kleinen flexiblen Verarbeitungseinheiten im Gegensatz zu auf Effizienz getrimmten Fabriken für den gesamteuropäischen Exportmarkt. »Einen von Mäusen angebissenen Kohlrabi wird im Supermarkt vielleicht wirklich niemand kaufen«, sagt Gerstl – und bezieht sich auf die Plage des »Mäusesommers« 2020. »Für eine Suppenküche sind angebissene Kohlrabis aber gut geeignet. Wenn allerdings eine fette Maschine ausgelastet werden muss, damit sie sich selbst rechnet, dann rechnet sich das halt nicht.« 

Das digitale Preisschild des Start-ups Wasteless.
Dynamische Preisanpassung durch künstliche Intelligenz: je näher das Verbrauchsdatum oder das MHD rückt, desto günstiger. Das digitale Preisschild des Start-ups Wasteless zeigt zwei unterschiedliche Preise für Biorindfleisch. Bild: Wasteless.

BIORAMA #71

Dieser Artikel ist im BIORAMA #71 erschienen

Biorama abonnieren

VERWANDTE ARTIKEL