Der Dichter, der Heiler und das Baumhaus
Thomas Sautner führt uns an Orte, die seine Literatur inspirieren: hinein ins Waldviertler Hochmoor, in den Garten eines kräuterkundigen Heilers und auf Baumhäuser hinauf.
Wir treffen uns in Aalfang. Genauer: in Amaliendorf-Aalfang. Dort, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen und sich bei der Anreise zwischendurch das Navi verabschiedet, blüht und summt das Leben in hochsommerlicher Pracht. Einzelne Mohnfelder leuchten noch weit in die Landschaft, doch auf den Wiesen trocknet bereits die zweite Mahd Heu, das Getreide steht kurz vor dem Drusch.
Nur im Garten von Martin Flicker ist der Tisch der Natur noch richtig reich gedeckt: Hummeln, Wild- und Honigbienen fliegen Blüten in allen Farben an. Uns stellt »der Martin« grinsend eine Flasche Schremser auf den Heurigentisch: das regionale Bier, eisgekühlt in der Gartenhütte, die in den manchmal langen Waldviertler Wintern die empfindlicheren seiner Pflanzen vor Frost bewahrt. Wir nehmen im Schatten Platz und alle erst mal einen Schluck.
Ein wunderschöner Garten, ein besonderer Ort, das ist offensichtlich. Doch Plätze, an denen der Natur Raum gelassen wird, an denen nur behutsam und mit besonderem Bedacht eingegriffen wird, gäbe es hier im Waldviertel wahrscheinlich in jeder zweiten Ortschaft.
Warum hat uns Thomas Sautner, dessen Bücher zutiefst von dieser Gegend und vom Leben an der Grenze hier im nördlichen Niederösterreich geprägt sind, ausgerechnet nach Amaliendorf gelotst?
Im Garten des »Pflanzenflüsterers«
Nach gängigen Zuschreibungen ist Martin Flicker Kräuterexperte – auf seiner etwas in die Jahre gekommenen Website nennt er selbst sich einen »Pflanzenflüsterer« – und Thomas Sautner Schriftsteller. Letzterem wäre vielleicht noch hinzuzufügen, dass es sich bei Sautner um einen der verkanntesten Literaten der jüngeren Vergangenheit handelt, dass dieser Status darauf beruhen könnte, dass Thomas Sautner lieber im Abseits bleibt anstatt sich im Rampenlicht zu sonnen.
Doch für Martin Flicker, den gelernten Gärtner, greift die Bezeichnung Kräuterexperte jedenfalls zu kurz. Das ist spätestens klar als ihn sein Freund, der Autor, nach einem zweiten Schluck Bier vorzustellen beginnt.
Wer mit Sautners Werk vertraut ist, kennt Flickers halbe Familiengeschichte. Denn Martin Flicker ist ein Jenischer, also ein Angehöriger jenes »fahrenden Volks«, über dessen Geschichte wenig bekannt ist, weil seine Traditionen und das Wissen, das sich die umherziehenden Sippen im Laufe der Jahrhunderte auf Achse aneigneten, nur mündlich weitergegeben wurde. Und weil es über die des Lesens und Schreibens unkundigen Jenischen als ausgegrenzte und soziale Underdogs historisch vor allem abschätzige Erwähnungen gibt.
Ein »Gatsche« schreibt Geschichten auf.
»Unsere Leute konnten bis zur Generation meines Vaters nicht schreiben und lesen«, sagt Martin Flicker. »Unabhängig vom Geschlecht wurde unser Wissen immer vom ältesten Mitglied der Sippe mündlich an das jüngste weitergegeben, damit möglichst wenig Wissen verloren geht.«Mit dieser jenischen Tradition hat Flicker gebrochen. Er gab und gibt das Wissen an einen »Gatsche« weiter, an einen Nicht-Jenischen – an Thomas Sautner. Bereits in drei seiner Romane hat der Autor die Geschichte der Jenischen festgehalten. Im gefeierten Debüt »Fuchserde« (2006) erzählt er von der Verfolgung der Jenischen, ihrer tiefgehenden Naturverbundenheit. »Voller Weisheit, berührend, humorvoll und unglaublich spannend«, urteilte Robert Menasse damals über das Buch. »Das Gröbste über die Jenischen, historisch aufgearbeitet«, sagt der Autor selbst.
Im Buch »Milchblume« (2007) blickt Sautner in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die sesshafte Bevölkerung des Waldviertels den Fahrenden mit Niedertracht, Gewalt und heuchlerischer Feindseligkeit begegnete. »Kindswegnahme aus scheinheilig religiösen Motiven«, sieht Sautner selbst als Thema. »Die Älteste« (2015) porträtiert die alte Lisbeth, die am Rande des Moors auf einer Waldlichtung wohnt, eine Kräuterkundige, eine Jenische, zu der Kranke kommen, wenn die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt.
Was schreckliche Esoterik befürchten lässt – eine an Krebs erkrankte Städterin wird von Lisbeth herausgefordert, im Waldviertel geerdet und schließlich geheilt – ist lebensbejahende Literatur, die ihresgleichen sucht und in keiner Zeile ins Esoterische abdriftet. Die Älteste, die abgeklärte Lisbeth, hat als reales Vorbild Elisabeth Windtner (1896 –1986): Martin Flickers Urgroßmutter.
Die Lebensweisheit der jenischen Urgroßmutter
Bis zum seinem 16. Lebensjahr lebte Filcker als Jüngster mit der Ältesten im Wohnwagen und wurde in der Tradition der jenischen Kräuterheilkunde unterwiesen. »Der Schule war ich dementsprechend schleißig zugetan«, grinst Flicker. »Meine Urgroßmutter hat immer gesagt: Was du zum Leben brauchst, lernst du auf der Straße und im Wald. Ghupft wie ghatscht, ob du einen Wisch für irgendeine Befähigung hast.«
Als studierter Historiker schwärmt der Autor Sautner vom »irren Detailgedächtnis« seines Freundes – »und er erzählt sehr plastisch, der Martin.«
Sein Wissen gibt der Pflanzenflüsterer aber auch bei Kräuterwanderungen durchs Moor, in Kochkursen, in Workshops zur Gartengestaltung oder zur Kräuterkunde weiter. Außerdem verkauft er alte Obstsorten, Heil- und Gewürzpflanzen. Kein Kraut, für das Flicker keine Verwendung kennt, keine Blüte, die sich nicht nutzen ließe, kein Halm unbedeutsam. Selbst vielen Neophyten – invasiven, eingeschleppten Pflanzen – kann er etwas abgewinnen.
Das Indische Springkraut? »Die reifen Samen sind geröstet sehr aromatisch.«
Der Staudenknöterich? »Ein wunderbares Gemüse, das blanchiert wie Spargel schmeckt.«
Keine Frage bleibt ohne Antwort. Nur wen der 49-Jährige sich irgendwann als Ältester als die oder den Jüngsten auswählen wird, ist noch unklar. »Das wird sich weisen. Ich rechne damit, zwischen 90 oder 100 Jahre alt zu werden, habe also noch etwas Zeit«, sagt er und steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette an.
Am Rande des Moors, ganz in der Nähe, wo Martin Flicker mit seiner Urgroßmutter das Leben studierte, verleiht Thomas Sautner seinen Romanen und Erzählungen gerne ihren letzten Schliff, hoch oben und ungestört im Baumhaus.
Auf die luftigen Herbergen neben dem Naturpark Hochmoor Schrems stieß er vor ein paar Jahren im Zuge einer Recherche. »Der Thomas wollte damals für ein Buchprojekt die Vögel aus der Vogelperspektive sehen«, erinnert sich Franz Steiner. Im Brotberuf Sachverständiger für Immobilien wurde Steiner auf einer Neuseelandreise inspiriert – und baute hoch bei den Wipfeln der Eichen und Birken, der wilden Kirschen und Föhren fünf hochwertige Baumhaus-Lodges – »bewusst keine rustikalen Holzbuden, sondern Baumhäuser für Erwachsene.« Seit damals sind Steiner und Sautner befreundet und der Autor ist regelmäßig zu Gast.
Im sogenannten Turmhaus, 18 Meter über dem Teich eines alten Steinbruchs, auf dem vermoosten Fundament des alten Krans und mit Blick aufs UnterWasserReich, schrieb er zuletzt auch am Roman »Großmutters Haus« (2019) – ein liebevolles, komisches Buch über eine rast- und ratlose Enkelin und deren abgebrühte und vor Weisheit und Lebenslust strotzende Großmutter, deren an einer Waldlichtung gelegene Veranda zur »Freiluftuniversität für das Große und Ganze« wird.
Wald und Wasser, in dem sich die Welt spiegelt
Als solche erachtet Thomas Sautner das Waldviertel wohl insgesamt. Er schöpft aus der urtümlichen, vom Zeitenlauf geschliffenen Landschaft, aus Wald und Wasser, widmet sich der entschlackten Existenzen, ihren Charakteren und Lebensweisen. »Wie die 1.800 Teiche des Waldviertels alle Himmel spiegeln, öffnet mir dieses Land meine Literatur.«, sagt der Autor. »Darüber hinaus ist es meine Heimat. Von hier aus kann ich reisen, soweit ich denken mag.«
Nein, man muss das Waldviertel nicht kennen, um Sautners Bücher mit Freude lesen zu können. Umgekehrt verhält es sich ebenso. Dennoch eröffnet uns die Lektüre von Sautners Büchern neue Sichtweisen auf diese besondere Gegend hier oben im Äußersten Norden Niederösterreichs.
Dass man Passagen daraus noch einmal lesen und die Bücher wieder zur Hand nehmen möchte, wenn man die inspirierenden Schau- und Denkplätze kennengelernt hat, ist wahrscheinlich. Das Philosophieren regen sie jedenfalls nicht nur zwischen Buchdeckeln an.
Als wir uns verabschieden, entdecken wir am Heck von Sautners altem olivgrünen Geländewagen einen kleinen, fast unscheinbaren Sticker. »Woidviatl. Afoch guat.«, steht da. Da kommt einem ein Spruch in den Sinn, den Thomas Sautner seinem Buch »Waldviertel steinweich« vorangestellt hat, jenem Buch, das bislang die offensichtlichste Würdigung des Waldviertels im Werk des Autors bleibt. »Freilich,«, bekennt er da, »Heimatliebe ist ein wenig lächerlich, ein wenig albern. Aber ist das mit der Liebe nicht immer so?«
Liebe, denken wir – Schrems bereits im Rückspiegel –, bedarf keiner Rechtfertigung. Und uns ist klar: Wir sehen uns bald wieder. In Aalfang, im Winterwald oder hoch in den Bäumen.
Alle im Text erwähnten Bücher sind im Wiener Picus Verlag erschienen.
Mein Waldviertel
Thomas Sautner empfiehlt
Wandern in der Blockheide (Heidenreichstein)
»Gmünds Freiluftwohnzimmer. Vom Aussichtsturm sieht es sich bis weit über die Grenze. Für alle, die kein Brett vor dem Kopf haben wollen, sondern tonnenschwere granitene Restlinge.«
Wohnen in den Bäumen (Schrems)
»Für alle, die das Leben einmal aus der Perspektive von Turmfalke, Eichelhäher und Baummarder kennenlernen möchten. Oder zum einfach einmal Runterkommen in Baumhäusern.«
Kräuterkunde im Schaugarten (Amaliendorf-Aalfang)
»Martin Flicker, der eng mit manchen meiner Romane verbunden ist, hat ein uferloses Kräuterwissen – und gibt es in Seminaren gerne weiter. Ein Erlebnis!«
Otterschauen im UnterwasserReich (Schrems)
»Für mich das spannendste, lehrreichste Naturparkzentrum Österreichs. Kosmos Leben auf einem Fleck.«
Wirtshaus Moorstein (Heidenreichstein)
»Slowfood statt Fastfood. Karpfen-Burger, lokales Bier und Waldviertler Sunset.« Nicht biozertifiziert.
Wasserburg Heidenreichstein (Heidenreichstein)
»Über Jahrhunderte nie eingenommen. Einmal hart vom Blitz getroffen. Steht trotzdem noch. Vernarbt und ungerührt. Zu Stein gewordener Waldviertler Sturschädel.«
Gasthaus Hopferl (Gmünd)
»Mitten am Gmünder Stadtplatz, wo Franz Kafka schon flanierte. Ein Meisterwerk von ihm aufschlagen, die regionale Küche genießen, ein Bier aus Schrems oder Zwettl trinken!« Nicht biozertifiziert.
Rauf und raus ins Waldviertel!
Besondere Orte der Region im Nordwesten Niederösterreichs – künftige Lieblingsplätze und Ausflugswege für Tage, Wochenenden oder ganze Sommer in ungestörter Ruhe inmitten kühler Natur.