Der Friedhof gehört zum Leben
Berlin und Wien haben sich in ihre Friedhofslandschaften gezeichnet. Norbert Fischer im Interview über Grabstättenkultur in Bewegung.
BIORAMA: Was verraten dem geschulten Auge die Friedhöfe über die Städte und ihre BewohnerInnen?
Norbert Fischer: Die Friedhofslandschaft Wiens verrät die Zentralisierung der frühen Residenz- und Hauptstadt. Sie hat früh ihren Zentralfriedhof bekommen. An den vielen kleinen Friedhöfen Berlins kann man ablesen, dass es spät aus vielen kleinen Orten zusammengewachsen ist.
Wenn man über einen Friedhof im, historisch gesehen, katholisch geprägten Wien spaziert, fallen einem womöglich die reich geschmückten Gräber auf. Weil es im Katholizismus stärker darum geht, wie es nach dem Leben im Jenseits noch weitergeht und was man dafür tun kann, hat sich da eine reichere Kultur und Symbolik in Bild- und Figurensprache für den Umgang mit dem Tod entwickelt. Im Protestantismus legt man sehr viel mehr Wert auf das Leben im Diesseits. Gräber sind hier schlichter. Der Tod ist im Stadtbild von Berlin längst nicht so präsent wie in dem von Wien.
Die Stadtgeschichte schreibt sich natürlich auch über die großen Namen berühmter, wohlhabender Personen und Familien in die Friedhöfe ein. Seit dem 19. Jahrhundert hat man in beiden Städten monumentale Familiengrabstätten errichtet, wo Bürgertum und Adel ihren Reichtum und ihr Prestige zeigen.
Friedhöfe schreiben über die Platzierung und Ausgestaltung von Gräbern vielleicht selbst ein bisschen Stadtgeschichte. Wer wird hier gern vergessen?
Schon was die Zugangsvoraussetzungen betrifft, waren die konfessionellen Friedhöfe exklusiv. Zur Bestattung auf einem christlichen Friedhof musste man – nebst anderen Kriterien – getauft sein. Alle Leute, von denen man das nicht wusste, durften eigentlich auf einem christlichen Friedhof nicht bestattet werden.
Deswegen hat man für unbekannte Leichen – etwa auch Fluss oder Meeresleichen – auch besondere Friedhöfe angelegt. Aber auch für SelbstmörderInnen waren bis vor 200 Jahren aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, weil sie sich dem Willen Gottes, der uns das Leben geschenkt hat, widersetzt haben.
Häufig hat man die Selbsttötung dann als Unfall vertuscht und die Menschen doch auf den Friedhöfen begraben; Für die anderen Leichname wurden bis etwa zum Jahr 1800 gesonderte Friedhöfe angelegt oder bestimmte Ecken für diese Exkommunizierten auf den Friedhöfen.
Auf dem Wiener »Friedhof der Namenlosen« kümmert sich jemand ehrenamtlich um die Gräber von Flussleichen.
Dort an der Flussbiegung der Donau am Alberner Hafen, die heute so nicht mehr existiert, wurden viele Flussleichen angeschwemmt. In Berlin gibt es so etwas nicht, aber es gibt einen sogenannten Selbstmörderfriedhof im Grunewald, dem Berliner Stadtwald. Wo der Fluss Havel einen Knick macht, wurden besonders viele Wasserleichen angeschwemmt, darunter auch SelbstmörderInnen.
Was ist dran am angeblich besonderen Umgang der WienerInnen mit dem Tod?
Der Zugang zum Tod ist im Katholizismus unverkrampfter, das hat Wien mit anderen Städten gemein. Im Friedhofsshop des Wiener Zentralfriedhofs finden Sie Scherzartikel wie T-Shirts und witzige Bücher, die ironisch gebrochen mit dem Tod spielen. Es herrscht eine Nähe zum Thema, nicht zuletzt im Stadtbild. Dort ist der Tod präsent, zum Beispiel in Form von Grüften mitten in Wien, im ersten Bezirk. In Berlin wird er wortwörtlich an den Rand geschoben. Hier ist der Tod ein pragmatisches Problem.
Naturbestattung ist beliebt. Sterben die Friedhöfe aus?
Es gibt einen doppelten Wandel in der Bestattungskultur: einerseits den Trend zu Gemeinschaftsgrabstätten, er ist in Wien noch nicht so stark sichtbar wie in Berlin. Doch es wird künftig da und dort vor allem pflegeleichte Gemeinschaftsgrabstätten geben.
Die Gemeinsamkeit der Gemeinschaft kann in so ziemlich jedem Merkmal liegen: von Fußballclubs, die ihrer toten Mitglieder gedenken bis hin zum Wunsch, in einem Wald bestattet zu sein, als einzige Gemeinsamkeit. Der zweite Trend ist der zur Naturbestattung, also Bestattungswälder oder Flussbestattungen.
Das Friedhofsbild vom Grabstein, auf dem mehreren Generationen aufgelistet sind, wird verschwinden?
Wenn 50 Prozent der Haushalte Singehaushalte sind, wie es derzeit in Hamburg der Fall ist, macht die Ausrichtung der Friedhöfe auf Familiengrabstätten natürlich keinen Sinn mehr. Denn sie setzen voraus, dass sie gepflegt werden und die nächste Generation insofern auch vor Ort lebt. Das entspricht häufig nicht mehr den Lebensgewohnheiten.
Gleichzeitig möchten immer weniger Menschen auf einem Friedhof bestattet werden, sondern etwa in einem Wald. In Deutschland existiert mittlerweile eine dreistellige Zahl von Bestattungswäldern. Auf Wiener Stadtgebiet gibt es den »Wald der Ewigkeit« im Mauerbachtal, aber auch in Wien kann man sich auf dem Zentralfriedhof ohne Grabstein unter einem Baum bestatten lassen. Der Name wird dann an einer zentralen Gedenkstätte verzeichnet.
Wenn man Wünsche zur eigenen Bestattungsform hat, sollte man sich also idealerweise auch überlegen, wo man stirbt?
Ja, das wäre hilfreich. Vor allem für die Hinterbliebenen, denn die sind verpflichtet, einen letzten Wunsch zum Ort der Bestattung zu beachten.
In den Bundesländern Wien und Berlin ist das freie Verstreuen der Asche in einem See oder einem Fluss verboten, Bestattungswälder sind erlaubt. In Niederösterreich ist Flussbestattung aber etwa schon erlaubt. In Deutschland gibt es nur ein Bundesland, die Großstadt Bremen, die das freie Verstreuen der Asche erlaubt – im Fluss oder auch im Stadtpark.
Was bedeutet denn diese rechtliche Situation für das Transportaufkommen von Leichen über Landes- und Staatsgrenzen hinweg?
Der Export zum ausländischen Krematorium ist ein eigener Wirtschaftszweig geworden. Die Bestattungsgesetze sind in Deutschland und Österreich noch verhältnismäßig restriktiv, viele lassen sich daher von einem Bestattungsunternehmen in ein Krematorium in Tschechien oder in den Niederlanden überstellen. Das stellt allerdings, abhängig vom Bundesland, eine Ordnungswidrigkeit dar. Wenn Sie das machen lassen, wird Ihre Asche in einer Urne wieder ausgehändigt und die kann sich jemand legal ins Wohnzimmer stellen.
Was bedeutet der Trend zur Bestattung, die keinen Gedenkort hinterlässt, für künftige Stadtbilder?
Es gibt diesen Trend, gleichzeitig gibt es aber auch noch neue Orte für Trauer und Erinnerung, während die klassischen an Bedeutung verlieren. Ein Beispiel für neue Entwicklungen sind Erinnerungsorte für Opfer des Straßenverkehrs oder politischer Gewalttaten.
Ist die Stadtplanung gefordert, künftig anderen Platz für Tod und Erinnerung und neue Bestattungsformen zu schaffen?
Die StadtplanerInnen werden den Wünschen nach Naturbestattung Rechnung tragen müssen. Idealerweise bietet jede Stadt eine Möglichkeit zur Naturbestattung an, auch auf Friedhöfen.
Bietet dies eine Möglichkeit, Inseln für Naherholung und Biodiversität in oft stark verbautem Gebiet zu schaffen?
Ja, denn hinzukommt, dass die Zahlen der Feuerbestattung in beiden Städten derzeit ansteigen, in Berlin noch stärker als in Wien. Ein Aschengrab benötigt nur ein Achtel der Fläche eines Erdgrabs. Dadurch werden Flächen gewonnen. Es gibt den kulturhistorischen Ansatz, eine Art Freilichtmuseum für historisch wertvolle Grabmäler einzurichten. Es gibt aber auch den ökologischen Zugang, Friedhöfe teilweise gezielt verwildern zu lassen und so der Natur zu überlassen. Auf den großen Friedhöfen beider Städte wird Biodiversität jetzt schon gezielt gefördert, es wird insektenfreundlich gestaltet, es wird etwa auch geimkert.
Und man kann beide Ansätze verbinden und auch auch Erholungs- und Freizeitflächen draus machen. Da verweise ich gerne auf den Park der Ruhe und der Kraft im Wiener Zentralfriedhof, in dem Kunstwerke aufgestellt werden.
Welchen Friedhof würden Sie zur Besichtigung in Wien empfehlen?
Den Friedhof der Namenlosen an der Donau. Bei studentischen Exkursionen zeigte sich, dass dies ein sehr besonderer Ort in einer Großstadt ist.
Und welcher Friedhof ist besonders sehenswert in Berlin?
Da würde ich Ihnen den »Selbstmörderfriedhof« im Grunewalder Forst empfehlen. Er liegt landschaftlich sehr schön und beherbergt auch das Grab der Sängerin der in den später 1960er-Jahren erfolgreichen Band Velvet Underground, Nico.
Norbert Fischer ist Professor für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg, 2017/18 hat er für ein Jahr an der Universität Wien unterrichtet.
Bild: Norbert Fischer/Patrick Ohligschläger.