Warum Yoga für Menschen in X-Large besonders geeignet ist
Gerade für Dicke bietet Yoga einen sanften, schonenden Zugang, sich selbst positiv wahrzunehmen und gesund zu halten, meint Birgit Feliz Carrasco, die Autorin von „Yoga X-Large“ und der „I Love Yoga“-Buchreihe.
BIORAMA: Ihnen ist wichtig, dass es sich bei „Yoga X-Large“ um kein Buch zum Abnehmen handelt, weil Sie Yoga als ganzheitliche und nicht allein körperliche Angelegenheit zu mehr Wohlbefinden erachten. Ich nehme an, es kommt dennoch öfter vor, dass Übergewichtige, die sich durch Yoga ganz auf sich selbst einlassen und akzeptieren lernen, auch das eine oder andere Kilogramm verlieren.
Birgit Feliz Carasco: Mir ist es wirklich wichtig, Menschen Mut zu machen, sich so zu akzeptieren wie sie sind, denn das ist genau das, was meiner Ansicht und Erfahrung nach in unserer heutigen Gesellschaft schief läuft. Der Mensch soll der Norm eines allzeit Leistungswilligen, Leistungsstarken, trendigen und nach derzeit geltenden Schönheitsidealen geformter Körper ohne Falten und ohne Fett sein. Ganze Industriezweige „ernähren“ sich von den menschlichen Ängsten, dieser Norm nicht zu entsprechen.
Was tut nun Yoga? Yoga ist ein ganzheitliches Konzept, dass nicht vom Kopf gesteuert wird, sondern Körper und Seele wieder ihre paritätischen Anteile am Sein bringt und diese mit unseren durchaus liebenswerten und sinnvollen Kopf vereint. Am Beginn eines jeden Abnehmprogramms, so man sich dafür entscheidet, sollte der Weg der Selbstakzeptanz und der Selbstliebe stehen, denn nur das was man liebt, kann man auch verändern und nicht das, was man ablehnt und mit inneren Widerstand belegt. In jedem Fall ist die Praxis von Hatha-Yoga, also die körperliche Form des Yoga, hilfreich, den eigenen Körper besser kennen und schätzen zu lernen. Es werden Muskeln liebevoll gedehnt und aufgebaut, Knochen- und Gelenkstrukturen bewusst gefordert und die Funktion der Organe sowie des Stoffwechsels aktiviert. Man kann mit Yoga abnehmen, wenn man möchte, aber nicht allein durch Yoga. Man kann aber auch so bleiben wie man ist und sich dabei gut fühlen.
Übrigens sage ich sehr bewusst „Dicke“, da ich dieses Wort für eine Bezeichnung, eine Beschreibung halte, die nicht despektierlich ist.“ (Birgit Feliz Carrasco)
Ist Yoga für Übergewichtige besonders empfehlenswert oder geht es eher darum, dass Übergewichtige keine Angst davor haben sollten, sich auch auf Yoga einzulassen?
Birgit Feliz Carrasco: Yoga ist tatsächlich besonders empfehlenswert für Dicke, weil die Praxis von Asanas jeder Körperkonstitution angepasst werden kann und im Gegensatz zu Sportarten wie etwa Lauftraining achtsam für Gelenke und Wirbelsäule ausgeübt wird. Voraussetzung ist allerdings, dass Yoga für Dicke fachkundig angeleitet wird, denn es gibt einige Dinge zu beachten. Übrigens sage ich sehr bewusst „Dicke“, da ich dieses Wort für eine Bezeichnung, eine Beschreibung halte, die nicht despektierlich ist. Wenn ich zu jemandem „Dünne“ oder „Dünner“ sage, ist dies ja auch keine Beleidigung.
Es wäre wirklich wünschenswert, wenn sich mehr Dicke auf Yoga einlassen würden bzw. könnten. Das Image der verdrehten Akrobatiker, die sich kasteien und rappeldürr sind – das wäre jetzt eher ein despektierliches Wort – ist anachronistisch. Ich sehe Yoga mehr als Heilungstherapie für Physis und Psyche, denn als Akrobatik.
Quer über alle gängigen Spielarten des Yoga: Gibt es eine Faustregel, um Gelenke und Wirbelsäule zu schonen?
Birgit Feliz Carrasco: Eigentlich gelten diese Faustregeln für alle „Gewichtsklassen“: Als Neuanfänger vorerst rückwärtsbeugende Asanas vermeiden, keine Flow-Praxis sowie entsprechend der derzeitigen Körperkonstitution Variationen der Yoga-Positionen ausführen bis der Körper mit zunehmender Praxis flexibler sowie kräftiger wird. Yogameister Krishnamacharya lehrte: „Yoga soll sich dem Menschen anpassen und nicht der Mensch dem Yoga.“ Leider wird dieser Grundsatz vielerorts missachtet, gleich ob das Klientel dünn oder dick ist.
Ehrlich gesagt meditiere ich liebe als mich irgendwo im Netz selbst zu beweihräuchern.“ (Birgit Feliz Carrasco über Instagram)
Yoga ist nicht gleich Yoga. Es gibt Bikram, Ashtanga und viele anderen Ausprägungen. Gerade für Einsteiger ist die Vielfalt anfangs überfordernd. Gibt es Stile, vor denen Sie Übergewichtigen klar abraten würden?
Birgit Feliz Carrasco: Ich habe vor kurzen für meine Buchreihe „I love Yoga“ recherchiert und unterschiedliche Yogastile sowie ihre Eignung für Anfänger, Geübte oder Fortgeschrittene beschrieben. Vinyasa Flow bzw. Ashtanga und auch Bikram oder Aerial Yoga (in Tüchern, die von der Decke hängen) sind ganz sicher nur für Fortgeschrittene geeignet. Fließende, schnelle Bewegungen im Yoga verführen den Körper zu schludern. Die präzise Ausrichtung und das Erlernen der Grundpositionen, so wie es im Hatha-Yoga gelehrt wird, ist meiner Meinung nach ein Muss bevor weiterführende Stile praktiziert und heilend vom Körper aufgenommen werden können. Wenn jemand mit Yogapraxis anfangen möchte, empfehle ich keinesfalls offene Klassen, sondern spezifische Anfängerkurse zu besuchen und am besten in Studios mit kleiner Gruppengröße zu gehen, wo Yogalehrende prüfend und durch konkrete Hilfestellungen korrigierend eingreifen. Das ist ein entscheidendes Qualitätsmerkmal für guten Yogaunterricht.
Sie selbst praktizieren seit beinahe 20 Jahren Yoga und gemahnen ihre Leser und Kursteilnehmerinnen deshalb, sich weder an den durchtrainierten Models, noch an Ihnen selbst zu messen – eben weil Yoga ein Weg des Bemühens und nicht die Perfektion sei. Was sind denn erfahrungsgemäß die ersten kleinen Erfolge als Yoga-Anfänger?
Birgit Feliz Carrasco: Das Wundervolle am gesamten Konzept des Yoga ist, dass man ab der erste Stunde den Körper feinfühliger wahrnimmt. Ich nenne es die Magie des Yoga, wenn Schüler nach ca. 90 Minuten Yoga sagen: „Ich hab gar nicht mehr an meinem Job gedacht.“ oder „Ich fühle mich erfrischt, belebt und ausgeglichen statt müde.“ Nach nur einer Unterrichtseinheit! Bei der Praxis des Yoga atmet der Körper wieder so, wie die Natur es eigentlich vorgesehen hat, nämlich langsam und tief. Allein das macht bereits einen Wow-Effekt. Erfahrungsgemäß sind auch Rücken und Wirbelsäule nach zwei bis drei Yoga-Sessions dehnbarer und wo zuvor in der Vorwärtsbeuge des sogenannten Kniekusses die Erde unter den Händen unüberwindbar entfernt schien, kommt der neue Yogafan nach einigen Lektionen bereits mit den Finger zum Boden.
Manche Übungen und Positionen der traditionellen Yoga-Spielarten, schreiben Sie, wären für den Körperbau des durchschnittlichen Mitteleuropäers gar nicht geeignet. Sie haben mit „physiologischem Yoga“ deshalb ihren persönlichen Stil entwickelt. Was sollten eingeborene Europäer am besten ganz bleiben lassen?
Birgit Feliz Carrasco: Von meinen Reisen in Indien weiß ich, dass Inder meist längere Arme und Beine in Proportion zum Oberkörper haben und auch nicht unter (vom vielen Sitzen am Schreibtisch) degenerierte Wirbelsäule und verspannten Rückenmuskeln leiden. Kniegelenke extrem zu verdrehen, so wie es auf manch alten Fotos von Hatha-Yogis aus dem letzten Jahrhundert zu sehen ist, sollten Europäer meiden, genauso wie extreme Rückbeugungen nach hinten, bei denen die meisten hiesigen Menschen ihre Lendenwirbelsäule noch mehr stauchen als zu flexibilisieren. Meiner Ansicht nach ist auch der vielgepriesene Kopfstand ein Wagnis, da aufgrund unserer Lebens- und Arbeitsweise die Halswirbelsäule bei 90% der Mensch nicht mehr gerade ausgerichtet ist. Die Praxis des Schulterstands dagegen ist viel leichter erlernbar und hat multiple Heilwirkungen statt der vielen Kontraindikationen des Kopfstandes. Für alle Positionen des Yoga jedoch gilt: Langsam aufbauen und allmählich unter der gegebenen Physiologie des Körpern steigern. Wenn ein Europäer beispielsweise sehr groß ist und lange Beine hat, wird es für ihn gesünder sein, bei der Ausführung des Dreiecks eine Hand auf einen Yogablock statt auf die Erde zu legen.
Sie betreuen einige Yoga-X-Large-Gruppen. Ist es notwendig beim Yoga gewissermaßen Gewichtsklassen zu separieren – oder geht es da eher darum, Übergewichtigen die Scheu zu nehmen?
Birgit Feliz Carrasco: Unterschiedlich gewichtige Yogaklassen braucht es nicht, wohl aber einen guten Yogalehrenden, der die Positionen gemäß des Körpers anpassen und variieren kann. Wenn der Bauch beispielsweise dicker ist, kann man beim Kniekuss im Sitzen die Beine mehr oder weniger weit grätschen oder den Busen im Drehsitz vorm Drehen händisch etwas verlagern. In Yogaklassen für Dicke geht es meist sehr lustig und dennoch angemessen ambitioniert zu, weil Dicke unter sich sich wohlfühlen. Wäre schön, wenn wir alle mal damit aufhören, Dicke als eine andere Art von Menschen anzusehen.
Gerade auch Yoga-Lehrerinnen und -Lehrer sind vor einseitigen Körperkult nicht gefeit. Kommt es auch vor, dass Menschen zu Ihnen kommen, die sich in anderen Yoga-Kursen nicht wohl oder gar gemobbt und ausgegrenzt fühlen?
Birgit Feliz Carrasco: Naja, die Yogafachszene ist inzwischen groß und mitunter auch von Egozentriker durchzogen. Das bringt wohl das weltumspannende „Business des Yoga“ so mit sich und da geht es mancher Ort auch sehr elitär zu. Viele, viele Yogalehrende leben jedoch den wahren Yogaspirit aus der Güte des Herzens, mit viel Respekt und bewusster Toleranz. Von Ausgrenzungen wurde mir immer mal wieder berichtet und auch einige sogenannte Yoga-Gurus haben vielleicht den tiefen Sinn des geistigen wie physischen Yogaweges noch nicht begriffen … aber von denen kann man sich ja fernhalten. Ich schaue immer, was meinem Herzen guttut, handele danach und gebe diese Lebensweise auch in meinen Seminaren an andere weiter. Das macht das Leben heiter!
Sie haben 1998 mit Yoga begonnen, als es darum noch keinerlei Lifestyle gab. Gerade in den vergangenen Jahren kam ein regelrechter Yoga-Hype auf, den nicht zuletzt Instagram und andere Selbstdarstellungsplattformen befeuert haben. Sind Sie selbst bewusst nicht auf Instagram?
Birgit Feliz Carrasco: Das sind wirklich Phänomene unserer Zeit: Selbstdarstellungen, Kommentarwesen, Informationsdrang und allgemein das Leben öffentlich zu gestalten. Was suchen wir als Yoga-Praktizierende? Wir versuchen uns selbst zu ergründen, nach innen zu lauschen, den Sinn des Lebens zu begreifen und harmonisch im Einklang mit dem Kosmos zu leben. Ehrlich gesagt meditiere ich liebe als mich irgendwo im Netz selbst zu beweihräuchern. Ich nutze natürlich auch die Darstellung meiner Arbeit auf eigener Website oder Facebook, aber meine Lebenszeit möchte ich lieber durch wirkliches Leben als durch Darstellungen auf Instagram nutzen … sowas verschlingt viel feinstoffliche Energie. Ich lebe lieber den echten Yoga-Lifestyle durch bewussten Lebenswandel und bewusstes Handeln im Alltag.
Was kann Yoga, was Aerobic – die Mode der 80er Jahre – nicht konnte?
Birgit Feliz Carrasco: Oh die Achtziger waren toll, musikalisch auf alle Fälle … dennoch war es ein Jahrzehnt, indem das Sein sehr nach außen gerichtet war. Yoga gab es auch, hatte aber eine andere Qualität als heute. Die Zeitqualität und das feinstoffliche Feld auf Erden hat sich mit den beginnenden 2010er-Jahren verändert, innere Werte statt äußere Darstellung zählen mehr – gleichwohl einige Irre der derzeitige Weltbühne immer noch im altem System der Egozentrik verhaften geblieben sind. Aerobic war ein Körperkult, nicht mehr und nicht weniger. Yoga ist ein Jahrtausende altes und immer noch gültiges Konzept, das unter anderem eine Disziplin der Körperbewegung beinhaltet. Weitere Disziplinen des Yoga sind ethische Werte und Handlungsempfehlungen (Yama und Niyama), Atemverfeinerung und Lenkung des Lebensenergie (Pranayama) sowie mehrere Stufen zur Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und zur Meditationspraxis. Das ist doch weit mehr als Aerobic oder jede weitere bekannte Sportart zu bieten hat. Yoga ist ein Lebensstil. Es geht um die Erlangung des „Zustand des Yoga“, den man früher „Erleuchtung“ nannte und heute als „Erwachen“ bezeichnet wird. Würde es uns nicht allen guttun, endlich zu erwachen und die Welt zu einem liebevollen Ort und zuhause für alle zu machen?