„Das Bewusstsein für Reduktion fehlt“ – Harald Katzmair im Interview
Harald Katzmair ist ein Experte für Wandel und Anpassungsfähigkeit. Beim Future Day 2016 hat BIORAMA mit ihm über Resilienz und einen nachhaltigen Lebensstil gesprochen.
Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Harald Katzmair hat mit FASresearch ein internationales Analyse- und Beratungsunternehmen aufgebaut, das Entscheidungsträgern aus der Wirtschaft bei ihrer Zukunftsgestaltung, Strategieformulierung und Zielerreichung begleitet, forscht und lehrt an Universitäten.
BIORAMA: Sie beschreiben Resilienz als die Fähigkeit, mit verschiedenen Phasen eines Veränderungszyklus umzugehen, mit einer Mischung aus Robustheit und Grazie, Ausdauer und Beweglichkeit. Können wir das konkretisieren? Was braucht man, um resilient zu sein?
Katzmair: Wir haben die Kraft, Veränderungen zu überstehen. Doch unser Wunsch nach Sicherheit und Berechenbarkeit hat uns die nötige Beweglichkeit verlernt. Diese brauchen wir aber unbedingt, um resilient zu sein. Im Wesentlichen geht es um drei Faktoren, die man für das resiliente Handeln braucht:
- Man muss sich von der Fragmentierung zur gemeinsamen Situationsanalyse bewegen. Das bedeutet, ohne Ignoranz gemeinsam Zusammenhänge und Muster zu erkennen. Wenn jeder nur für sich oder in einem kleinen Rahmen denkt, wird nie das Große, das Ganze gesehen und das System Gesellschaft kann nicht funktionieren.
- Das denken sollte vom Ergebnis zum Beziehungsumfeld gelenkt werden, vom Produkt weg und hin zur Ökologie. Nur, wer sich als Teil des Ökosystems versteht, kann Veränderungen ganzheitlich steuern.
- Der Mut zur Eigenständigkeit ist nötig. Statt ständiger Imitation, die niemanden wirklich weiterbringt, ist eigene Interpretation gefragt. Wer im übertragenen Sinn wie Sinatra einen Song neu singt und prägt, wer aus bekannten Umständen oder Problemen eine eigene Lösung entwickelt, ist lebendiger Teil eines Systems, in dem er etwas Wertvolles beiträgt.
Sind das nicht dieselben Einstellungen, die man auch für einen nachhaltigen Lebensstil braucht?
Katzmair: Ja, Nachhaltigkeit in unserem Leben umzusetzen fordert immer Erneuerung, eben nachhaltige Erneuerung. Die Gemeinsamkeit, das vernetzte Denken, die Komplexität der Umwelt zu erkennen und sich als Teil eines Ökosystems zu begreifen sind genau die Faktoren für resilientes Handeln, die auch für eine nachhaltige Lebensweise gebraucht werden.
Sie verwenden den Begriff „Ökosystem“. Ist das ein Begriff für ein lebendiges System oder meinen Sie damit konkret die ökologische Umwelt, die Natur?
Katzmair: Wenn es um Nachhaltigkeit geht, meine ich hier tatsächlich das ökologische System. Die Konzepte für resilientes Handeln sind auch aus dem Umweltbereich abgeleitet. Das Prinzip, sich selbst als Teil eines funktionierenden, lebendigen Systems zu begreifen, kommt aus der Natur.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen nachhaltigem Handeln und resilientem Handeln?
Katzmair: Man braucht erfolgreiche Veränderung, Anpassungsfähigkeit – eben Resilienz – für die Nachhaltigkeit. Man kann aber sehr wohl resilient handeln ohne dabei nachhaltig zu sein. Nachhaltigkeit wäre in meinem Verständnis ein Überbegriff.
Sie haben am Future Day den adaptiven Resilienz-Zyklus vorgestellt. Dieser zeigt, wie sich ein Unternehmen vom Start-up bis zum Punkt der Disruption, an dem sich alles radikal verändert, entwickelt und dann eine schöpferische De-Strukturierung durchlaufen muss, um wieder neue Ideen vom Startpunkt ausgehend zu entwickeln. Was ist das Schwierige daran für uns Menschen?
Katzmair: Resilienz bedeutet, alle Phasen des Zyklus zu navigieren. Das Explorative, das Aufbauen und die Hochphase sind nicht das Problem. Es geht immer um das Abbauen und Reduzieren, was uns schwer fällt. Uns fehlt das Bewusstsein für gesunde Reduktion.
Ist das für Menschen und Organisationen dasselbe Prinzip?
Katzmair: Ja, egal ob persönlich oder in einer Organisation, die Schwierigkeit liegt in unserer westlichen Kultur, die den Abbau viel schwieriger verkraftet als den Aufbau. Die Asiaten haben viel mehr Bewusstsein und Gefühl für den „Backward Loop“.
Denken Sie, die asiatische Gesellschaft hat durch diesen Kulturunterschied mehr Potential, eine nachhaltige zu werden, als die westliche?
Katzmair: Da herrscht eine Ambiguität. Das Bewusstsein für den reduzierenden Teil ist viel mehr gegeben als in unserer europäischen Denkweise. Aber die Asiaten sind mit aktuellen Problemen ihrer gesellschaftlichen Entwicklung, wie der ungleichen Einkommensverteilung, konfrontiert und viel mehr beschäftigt, daher konzentrieren sie sich momentan auch nicht auf die Nachhaltigkeit.
Können wir dieses Bewusstsein für den Umgang mit der Reduktion lernen?
Katzmair: Das steht außer Frage, wir müssen. Wären wir nicht fähig zur Weiterentwicklung, würden wir nicht mehr existieren. Das ist wie, wenn man in einem sinkenden Schiff sitzen würde. Es gibt nur die eine Option seine Lage zu verbessern, wenn man nicht untergehen will. Man muss damit umgehen lernen. Das wird auch für uns als Gesellschaft notwendig sein.