Der Ruf nach Entnetzung
Im Hamsterrad der ständigen Erreichbarkeit schafft sich der Mensch eigene Rückzugsorte. Entnetzung macht sich breit und wird als neuer Wert gefeiert.
Die Euphorie über digitale Vernetzung war gestern. Jetzt entstehen kleine Inseln, Sehnsuchtsorte einer Welt ohne Networking, Facebook und Smartphones. Der »Digital Detox Tourism« ist das wohl plakativste Beispiel. Damit die Besucher von der vernetzten Außenwelt abgeschnitten sind, werden hier Hotels absichtlich in Funklöcher hineingebaut – eine digitale Reinigungskultur, die in den USA, in Schottland, Deutschland aber auch in Österreich längst ihren Kundenstamm hat. Das Ziel: Ein physisches Gemeinschaftserlebnis und die Absage an den sonst so entmaterialisierten Alltag.
Auch Großstädter erleben diesen Trend: Cafés werben damit, kein WLAN zu haben. Und Firmen sichern ihren Mitarbeitern langsam wieder Büros mit Türen, abseits des Großraum-Büro-Wahnsinns, zu. Apps und Programme werden hergestellt, nur zu dem Zweck, ihre Nutzer von sozialen Netzwerken oder Nachrichtendiensten fernzuhalten. Aber wie konnte es so weit kommen?
Ethos Vernetzung
Der Soziologe Urs Stäheli forscht zum Thema Entnetzung und hat hierzu beobachtet, wie das digitale Zeitalter einen Wertewandel in unserer Gesellschaft hervorgerufen hat. Die Vernetzung selbst sei mit einem Ethos aufgeladen und wurde zu einem festen Wert, sagt der Forscher. Nicht nur Organisationen, auch der Einzelne ist gefragt, sich zum begabten Netzwerker zu machen. »Der neue Geist des Kapitalismus trägt ein Begehren nach Vernetzung inne«, so Stäheli. Wer nicht gut vernetzt ist, sowohl persönlich als auch beruflich, gelte als Versager. Die festen Grenzen verschwimmen. Das Ideal, sich durch Vernetzung beruflich und privat zu bereichern, sei so zu der gesellschaftlichen Pflicht geworden, ständig erreichbar sein zu müssen. Ein Hamsterrad, dem sich keiner entziehen kann.
Die Wiederentdeckung des Ruhigen
Im Berufsleben gehe der Trend noch einen Schritt weiter, sagt der Forscher. Hier herrsche das Phänomen der Übervernetzung. Darunter versteht Stäheli den Zustand der Vernetzung zum reinen Selbstzweck. Wenn man also ein Netzwerk-Treffen hat, nur um das nächste zu planen. Ob Alumni-Treffen an der Universität oder Elevator-Pitch-Treffen zur Trockenübung – Vernetzen und vernetzt sein ist Pflicht. Warum, das weiß man hier nicht mehr so genau.
Auch Großraumbüros und gläserne Trennwände, die unsere Arbeitswelt bestimmen, sollten anfangs mehr Transparenz und vor allem zwanglose Kontakte herstellen. Diese Architektonik der Vernetzung habe sich in großen Organisationen längst durchgesetzt, sagt Stäheli. Jetzt würden Unternehmer auch hier wieder kleine Orte der Entnetzung herstellen, so der Wissenschaftler.
»Was die Anstellungspolitik angeht, gibt es eine Art Wiederentdeckung der Figur der Introversion, des Ruhigen.« Ein Mensch, der lange Zeit nicht richtig integriert werden konnte, eine vernachlässigte Ressource also. »Jetzt merken Bosse großer Unternehmen, dass jemand, der etwas zurückgezogen vor sich hinarbeitet, vielleicht zu viel interessanteren Ideen kommt als das bei einem Gruppen-Brainstorming der Fall ist.« Die Entdeckung des ruhigen, introvertierten Mitarbeiters, der nicht perfekt netzwerkt, werde also zunehmend zu einem geschätzten Wert.
Ein bekanntes Beispiel: Der Software-Riese SAP hat vor knapp drei Jahren in allen internationalen Standorten Menschen eingestellt, bei denen eine Form von Autismus festgestellt worden ist. Menschen, die also gute Arbeit leisten, ohne dabei die perfekten Netzwerker zu sein. Diesen Schritt von SAP haben einige Unternehmen nachvollzogen
Reaktionen einer Netzwerkgesellschaft
Das sich Entnetzen bedeute in der heutigen Zeit vor allen eines, sagt Stäheli: Entnetzung sei immer nur ein Moment, eine Praktik eine Form – eine Ausnahme im vernetzten Alltag. Alle Entnetzungs-Angebote seien unterschiedliche Versuche innerhalb einer etablierten Netzwerkgesellschaft, mit Problemen der Übervernetzung umzugehen. Das bedeutet, dass die Netzwerkgesellschaft selbst Formen hervorbringe, mit denen auf die Übervernetzung reagiert werden könne, wie beispielsweise Apps, die den User automatisch für eine bestimmte Zeit entnetzen. Die Medienkunst versucht die Entnetzung selbst zu einem künstlerischen Produkt zu machen. Gerade die Kunst sei ein Bereich, wo Entnetzung stark honoriert werde und das Provokationspotenzial zu diesem Thema deutlich werde, sagt Stäheli.
Die Gesprächs-Nostalgiker
Eine einsame Hütte im Wald, Lagerfeuer und tiefsinnige Gespräche: In Zeiten des Vernetzungs-Ethos, der Großraumbüros und der Übervernetzung ist man schnell versucht, sich nach dem »guten alten« Austausch unter vier Augen zu sehnen. Stäheli warnt hier aber vor einem nostalgischen Bild, das von dieser Vorstellung zehrt. Und das aus einem einfachen Grund: »Im Großen kann man der Vernetzung ohnehin nicht mehr entgehen. Entnetzung führt daher nie zu totaler Entnetzung, sondern schafft neue Vernetzungsformen, auf die wiederum reagiert wird.« Auch die Kommunikationskultur sei nicht mehr umkehrbar: »Ich würde das Chatten nicht automatisch als oberflächlicher oder minderwertiger bezeichnen als ein Gespräch unter vier Augen. Es ist höchstens eine unterschiedliche Kommunikations- und Ausdrucksform.«
Mosaik von Momenten
Wenn man eine entnetzte Welt fordert, dann würde das bedeuten, dass man auch die medientechnische Entwicklung rückgängig machen müsste, was undenkbar sei, so Stäheli: Die Energieversorgung, Krankenhäuser, städtische Infrastrukturen, der Luftraum aber auch das Finanzsystem sind miteinander vernetzt – »man kann diese Vernetzung zwar reduzieren, aber wenn man sie ganz ausschaltet, dann sind diese Systeme nicht mehr steuerbar, weil sie keine Umweltinformationen mehr bekommen.« Auch hier ist Entnetzung nur ein Moment – wie der Finanzsektor zeigt. Mithilfe von Bad Banks, die als Banken isoliert sind, können Ansteckungsprozesse verhindert werden, wie sie beispielsweise in der Finanzkrise auftreten. Diese Bad Banks kaufen toxische, also risikobehaftete Wertpapiere von Banken auf, damit diese ihre Vertrauenswürdigkeit gegenüber anderen Banken und Investoren behalten und die Kreditvergabe und der Geldfluss am Laufen bleiben.
»Was man an diesem Beispiel gut erkennt sind zwei Dinge«, sagt Stäheli. »Vernetzung wird als riesiges Sicherheitsrisiko verstanden und es werden Maßnahmen der Entnetzung geschaffen, die dieses Risiko eindämmen sollen.« Aber sobald man ein Risiko unter Kontrolle hat, komme eine neue Vernetzung, die wieder neue Risiken birgt. Auf den Einzelnen umgemünzt bedeutet das also in Zukunft, dass Zonen der temporären, digitalen Entnetzung geschaffen werden, die sich aber nicht zu einem neuen Bereich des Privaten aufaddieren lassen. Situativ muss das Private immer neu geschaffen werden, so Stäheli, es sei immer ein Mosaik aus vielen einzelnen Momenten innerhalb einer vernetzten Welt.