Mayday Mayday!
Die Kluft am Arbeitsmarkt wächst. Die Arbeitswelt verändert sich. Die Betroffenen versuchen Antworten auf damit einhergehende Probleme zu formulieren und schaffen sich somit Perspektiven.
»Bevölkerungsteil, der, besonders aufgrund von anhaltender Arbeitslosigkeit und fehlender sozialer Absicherung, in Armut lebt oder von Armut bedroht ist und nur geringe Aufstiegschancen hat«, schreibt der Duden zum Begriff Prekariat, der erst seit 2009 dort nachschlagen werden kann. »Laut Wiener ArbeitnehmerInnen-Förderungsfonds gibt es mit Stand Juni 2012 in Österreich 19.867 freie Dienstnehmende«, sagt Andrea Schober aus der Abteilung Work@flex der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten Druck, Journalismus, Papier. »Dazu kommen 35.782 geringfügig Beschäftigte und ca. 40.600 Menschen als Neue Selbstständige.« Und nicht zu vergessen all jene, die trotz Anstellung von ihrem Einkommen nicht leben können und zur Klasse der /working poor/ gehören. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit oder Dauerpraktika mit ungenügender finanzieller und sozialer Absicherung werden für immer mehr Menschen zum Problem – es ist hier nämlich nicht von Arbeitseinstiegsszenarien die Rede, sondern von jahrelangem prekären Joballtag. Und immer mehr wollen sich das so nicht gefallen lassen, organisieren sich im Kampf um ihre Rechte und treten damit in gewisser Weise in die Fußstapfen der »EuroMayDay«-Parade, die am 1. Mai 2001 zum ersten Mal in Mailand stattfand, um den verschiedenen Formen der Prekarisierung Ausdruck zu verschaffen. Versammelten sich damals noch 5.000 Menschen, zählt die Veranstaltung heute mehr als 100.000 Teilnehmende und findet seit 2004 in vielen Städten Europas und der Welt statt.
Das Prekariat organisiert sich
In gewerkschaftlicher Partizipation und Selbstorganisation sieht Alexander Eder in seiner Diplomarbeit »Prekäre Beschäftigung in Österreich« an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Möglichkeiten der Einflussnahme. Kümmern sich auf der einen Seite Gewerkschaften und darin beispielsweise Interessensvertretungen wie Work@flex mit Veranstaltungen, Broschüren oder Beratung um die Anliegen der Mitglieder, sind es auf der anderen Seite vor allem Initiativen, in denen sich Aktivisten gemeinschaftlich engagieren. »Durch die Nutzung von kollektivem Wissen, Ressourcen, gegenseitigem Austausch aber auch geteilter Haftung, können die Probleme prekärer Arbeits- und Lebenssituationen reduziert werden«, erzählen Gerin Trautenberger, Nataša Sienčnik und Bernhard Tobola vom Verlag Neue Arbeit, in dem sich Produkt-Designer, Architekten, Grafiker und Betriebswirte unter dem Dach einer GmbH zusammenfanden und trotzdem jeder seine eigenen Projekte weiter verfolgt. »Nicht immer hat man aber die Möglichkeit, sich in dieser rechtlichen Form zu organisieren«, räumen sie ein und verweisen auf eine Vielzahl an Gruppen, die sich über soziale Netzwerke und Aktionen Gehör verschaffen.
Gut 5.500 Mitglieder zählt die Facebook-Gruppe Amici delle SVA mittlerweile, die sich seit 2011 als Bürgerinitiative bei den Verantwortlichen der österreichischen Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen (SVA), der Wirtschaftskammer (WKO) und der Sozial-, Gesundheits- und Finanzministerien für eine gerechte und leistbare Sozialversicherung engagiert. Neben Diskussionen sind öffentlichkeitswirksame Aktionen wichtig, die auch auf mediales Interesse stoßen. So tanzten die Amici gemeinsam mit den Business-Mamas in einem Flashmob den »Tango korrupti« vor dem Parlament oder gaben ihr wortwörtlich letztes Hemd in der SVA-Zentrale in Wien ab. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative »Intelligenzija Potsdam«, die sich für eine Verbesserung der Situation von Lehrenden und Studierenden an ihrer Universität einsetzt. Nach zwei Jahren engagierter Lobbyarbeit ist die Situation weiterhin untragbar, weshalb die Initiatoren Sabine Volk und Michael Bahn mit Ende 2011 ihre Aktivitäten eingestellt haben und sich seit April mit der Nachfolgeorganisation »Intelligenzija Worldwide« weltweit stark machen.
»Zu Beginn steht die Sichtbarmachung einer relativ inhomogenen und kaum vernetzen Gruppe von Menschen«, sagt der Verlag Neue Arbeit, »erst dann wird man wahrgenommen und kann als Pressure-Group etwas bewirken«. Work@flex hat schon einiges erreicht: die Einbeziehung der Freien Dienstnehmenden in Arbeitslosenversicherung, Insolvenzschutz und Abfertigung neu, Wochengeld nach Einkommen und Krankengeld ab dem vierten Tag. »Aber es ist noch viel zu tun und es bewegt sich ziemlich langsam«, so Schober.
Neue Lebensstile notwendig
»Das Prekariat in Österreich organisiert bzw. vernetzt sich noch viel zu wenig«, sagt der Verlag Neue Arbeit. Schaut man über den (österreichischen) Tellerrand zum Beispiel nach Spanien, wo mehr als die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos sind und die Wirtschaftskrise an ihrem Höhepunkt angelangt ist, ist die Lage ähnlich. »Es besteht nicht einmal das gemeinsame Bewusstsein eines Prekariats«, sagt Domingo Mestre, Künstler und Mitbetreiber der La Calderería Valencia – einer »Alternativenfabrik«, wie sie sich nennt. Gemeinsam mit seinem Kollegen Lluís Benlloch räumt Mestre ein, dass sich in Barcelona und Madrid zwar ein bisschen mehr bewegt, »es hat aber den Anschein, als würden viele auf den Ausbruch eines Kampfes warten, der der Bewegung endlich Körper verleiht.« Erste Züge davon sehen sie schon in der »Bewegung 15. Mai« – Proteste, die soziale, wirtschaftliche und politische Missstände kritisieren. In Italien wurde der Begriff des Prekariats sogar plastisch umgesetzt: San Precario heißt der Schutzpatron, der seit 2004 durch zahlreiche Aktionen zur Ikone geworden ist und das Bewusstsein für prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse schärft. »Wesentlich ist, dass der Begriff Prekariat nicht nur ein Arbeitsverhältnis bezeichnet, sondern eine ganze Lebensform«, sagt Alessandro Delfanti, Gründer der italienischen »Intelligence Precaria« in einem Interview, „es ist ein existenzieller Zustand, der die Betroffenen daran hindert, sesshaft zu werden oder eine Familie zu gründen. Das Prekäre dehnt sich auf alle Lebensbereiche aus.« Klassische 9-to-5-Jobs am selben Arbeitsplatz werden durch zeitlich wie weltweit örtlich flexible Beschäftigungen ersetzt, die die private Lebensplanung essenziell mitbestimmen und neue Lebensstile erforderlich machen. »Wir sind der Meinung, dass das Prekariat zukünftige Arbeitsformen vorweg nimmt«, sagt der Verlag Neue Arbeit – gefragt ist nämlich nicht die Rückkehr zu alten Verträgen, sondern die Entwicklung neuer Modelle mit neuen Rechten, die die Gleichstellung der Menschen mit unterschiedlichen Arbeitsformen garantieren.
Gleiches Recht für alle
»Bezahlten Urlaub gib uns, verhilf zu Beiträgen für eine Pension, Sozialleistungen, Abfertigung, Kündigungsschutz, sichere Einkommen, für unsere Leistung ehrlichen Lohn«, ist eine Strophe des Gebets, mit dem San Precario angerufen wird und zu dem Andrea Schober die derzeitige Hauptforderung anhängen würde: die Einbeziehung der Freien Dienstnehmerinnen in das Mutterschutzgesetz. Als »schwierig« bezeichnet sie den Kampf gegen unsichere Arbeitsverhältnisse und sieht in der Vereinzelung ein großes Problem. Auch für Alexander Eder ist die Vielfalt von entstehenden Partikularinteressen, die aufgrund der zahlreichen Beschäftigungsformen zwangsläufig geschaffen werden, ein zentrales Hindernis in der Organisation eines gemeinsamen Protestes. »Man muss zur richtigen Zeit an den richtigen Hebeln drücken, sonst beißt man sich die Zähne aus«, sagt der Verlag Neue Arbeit und neben Identifikation mit dem Job und den daraus entstehenden Chancen soll man auch auf Geld und Sicherheit pochen. Die Anforderungen an einen gerechten Arbeitsmarkt haben sich mehr denn je geändert – die ersten Schritte »von unten« dazu sind bereits getan.
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