Wir Greise von Tschernowo – der Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“

"Baba Dunjas letzte Liebe" - Wir Greise von Tschernowo

Baba Dunja, die Heldin in Alina Bronskys idyllischem Endzeit-Roman, hat es sich in einem postapokalyptischen Paralleluniversum eingerichtet. Ihr Dorf Tschernowo – der Name erinnert nicht zufällig an Tschernobyl – ist eine Art tragikomisches Anti-Bullerbü: statt schwedischen Kindern leben hier russische Greise in einer Welt von gestern.

 

»Der Biologe hat mir erklärt, warum unsere Vögel lauter sind als anderswo. Nach dem Reaktor haben mehr Männchen als Weibchen überlebt. Bis heute gibt es dieses Ungleichgewicht. Und es sind die verzweifelten Männchen, die ihre Lieder schmettern auf der Suche nach einer guten Frau.«

Die Spinnen weben hier andere Netze und auch die Zikaden zirpen ein wenig anders in Tschernowo. Das war nicht immer so – denn die Welt der Baba Dunja trennt strikt in eine Zeit »vor dem Reaktor« und jene »nach dem Reaktor«. Genaueres über den Unfall erfahren wir nicht, wohl aber, wie er das Leben jener Leute zerrissen hat, die sich plötzlich in der Todeszone wiederfanden und evakuiert wurden. Irgendwann wollte sich Baba Dunja mit ihrem neuen Leben in der Stadt nicht mehr abfinden und kehrte freiwillig zurück in ihr Dorf. Und weil die Medien darüber berichten, bleibt sie dort nicht ganz allein: Ihr folgen Aussteiger, unheilbar Verkrebste und andere Todgeweihte. Von den 30 halbverfallenen Häusern im Dorf ist knapp die Hälfte bald wieder bewohnt. In kurzen, heißen Sommern pflanzen die Rückkehrer im Garten das Nötigste, um sich über den Winter plagen zu können. So lernen wir das schwere Leben einer einfachen Frau kennen. Ihre Welt mag klein sein, der Horizont beschränkt – ihr Herz ist umso größer. Wobei sich Baba Dunja, die im Dorf wider Willen als eine Art Stammesälteste geachtet wird, über die eigene Existenz keinerlei Illusionen macht. Alles ist vergänglich, auch Baba selbst ist schließlich »keine zweiundachtzig mehr«. Die Toten sind als Projektionen allgegenwärtig, dem Alltag trotzt die Alte mit schwarzem Humor und Lakonie. Das Leben der Tochter hingegen – sie hat es als Ärztin im Ausland geschafft – und auch das der Enkelin malt sie sich in den buntesten Farben aus. Zwar gibt es kaum Kontakt zur Außenwelt (»Ein Brief ist immer ein Fest«), doch der Nachwuchs schickt aus dem fernen Deutschland »Backpulver und Gewürze mit lateinischen Buchstaben« ins nahe Malyschi, eine Kleinstadt im Niedergang und der letzte Außenposten vor dem kontaminierten, weitgehend entvölkerten Hinterland. Alle paar Wochen bricht einer aus dem Dorf dorthin auf, um die Post zu holen. Ins Dorf selbst verschlägt es höchstens Forscher in Schutzanzügen, um den Vogelgesang, das Grillenzirpen oder andere Launen der absonderlichen Natur zu studieren.

Alina Bronksy, selbst in Russland geboren und mittlerweile Berlinerin, hat für ihren Roman viel recherchiert. »Baba Dunjas letzte Liebe« ist – sofern einem das als Leser bedeutsam erscheint – glaubwürdig, als Porträt einer Welt von gestern im Heute.

In klarer, schnörkelloser Sprache lässt Bronsky ihre Heldin erzählen. Es gelingt ein Kunststück melancholischer Heiterkeit, wobei die Alte selbst in den idyllischen Momenten des Sinnierens niemals in Stanyolpapiernostalgie verfällt. Schließlich ist es ein hartes Überleben im Paradies. Es breitet sich aus als fragiles, vormodernes Paralleluniversum und eine Welt auf Zeit. Nicht zuletzt, weil in Tschernowo die Kinder fehlen. Kein Mensch, der bei Sinnen wäre, würde – wie früher, vor dem Reaktor üblich – seine Kinder hierher zu den Großeltern auf Sommerfrische schicken. Auch Babas Tochter nicht. Ihr Enkelkind kennt die Alte nur von Fotos.

So ist Tschernowo – der Name des fiktiven Dorfes erinnert nicht zufällig an Tschernobyl – eine Art Anti-Bullerbü: statt Lindgrens schwedischen Kindern leben hier russische Greise in einer Enklave abseits aller Moden. »Wenn uns hier eins nichts anhaben kann, dann sind es die Epidemien der restlichen Welt«. Statt durch hoffnungsvolle Kinderaugen sehen wir sie im abgeklärten Blick der Alten. Ob es ein Morgen gibt? Ungewiss.

Bei aller Sympathie fühlt man sich der in der Ferne lebenden Tochter Baba Dunjas manchmal näher als der Erzählerin. Vielleicht liegt das an den mitunter reaktionären, in ihrer Geradlinigkeit trotzdem verblüffenden Wertbekundungen (»Wenn zwei Erwachsene zusammenleben, aber keine Kinder haben, können sie genauso gut auch getrennt leben. Das ist dann keine Ehe, sondern Spielerei.«). Vielleicht aber auch am Wissen, dass die Welt auch bei uns in der Ferne Schatten wirft. Die Karriere und das Familienleben der Tochter etwa sind Baba Dunja ähnlich fern und verklärt wie der russische Präsident, dem sich die Alte verbunden fühlt. Von den eigenen Männern enttäuscht, ist es doch geblieben, das naive Vertrauen in den starken Mann.

Überhaupt, die Politik. »Politik ist natürlich wichtig, aber es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Pürree essen will.« So ist Politik maximal ein geschwinder Gedanke, der gleich schon der Sorge um die Nächsten weicht. Dass diese in weiter Ferne weilen, ändert daran gar nichts.
Und Baba Dunjas im Buchtitel erwähnte letzte Liebe? Die ist, natürlich, das freie, unabhängige Leben. Und das ist wohl immer vor allem ein Überleben.

»Baba Dunjas letzte Liebe« von Alina Bronsky ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Das Hörbuch zum Roman (3 CDs) hat Sophie Rois eingelesen.

VERWANDTE ARTIKEL