All they can drink

Milch, Butter, Käse und Fleisch werden in Zukunft häufiger mit dem Hinweis auf »muttergebundene Kälberaufzucht« vermarktet werden.

Die Kälber trinken in der muttergebundenen Kälberaufzucht – hier auf dem Hof der Familie Kurz – wann und so viel sie wollen. Bild: Familie Kurz.

Es ist immer die gleiche Antwort, die Viktoria Hofbauer hört, wenn sie Gäste an den Elektrozaun führt. »Und«, hat sie gefragt, »fällt euch hier am Hof irgendetwas Besonderes auf?«. Es gibt BesucherInnen, die sehen sich erst suchend um, bevor sie etwas sagen; dann fällt ihre Antwort vielleicht zaghafter aus, ist aber doch auch eindeutig: »Nein.« Dabei weidet vor ihren Augen ein Dutzend Milchkühe, einige davon mit einem Kalb an ihrer Seite, am Euter trinkend. Genau dafür möchte die Biobäuerin den Blick schärfen. Denn genau das ist bemerkenswert und besonders an ihrem Weinviertler »Milch.KASino«, einem Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Gottfried bewirtschaftet. Fast alle Gäste stellen sich einen Bauernhof wie aus dem Bilderbuch vor. Deshalb scheint es ihnen völlig selbstverständlich, Kuh und Kalb gemeinsam im Herdenverband zu sehen. Mit der gängigen Praxis hat diese Vorstellung allerdings nur in den seltensten Fällen zu tun. Denn in der modernen Milchviehhaltung werden die Kälber bereits kurze Zeit nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. Einerseits verhindert das, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind zu innig wird. Findet die Trennung erst nach einigen Tagen statt, bedeutet das Stress für Kuh, Kalb und LandwirtIn. Wer einmal gehört hat, wie eine Kuh um das ihr weggenommene Kalb schreit, wird das Brüllen, das über Tage gehen kann, nie vergessen. Sogar abgebrühte Bäuerinnen und Bauern empfinden das oft als belastend. Andererseits soll die Kuh möglichst schnell wieder viel Milch geben – und zwar nicht ihrem Kalb, sondern dem Melkroboter. In der intensiven Milchwirtschaft werden Kälber ohnehin nur geboren, weil sonst irgendwann der Milchfluss der Mutter versiegt. Männliche Kälber, die später nicht selbst als Milchmaschinen zu gebrauchen sind, gelten oft regelrecht als Abfall. Gerade bei Rinderrassen, die einseitig auf hohe Milchleistung hingezüchtet sind, ist auch die Mast zur Fleischproduktion unwirtschaftlich. Viktoria Hofbauer und Gottfried Rögner halten Fleckvieh, eine Rasse, die sowohl nennenswert Fleisch ansetzt als auch viel Milch gibt.

Mutterkuhhaltung
ist eine Form der extensiven Fleischproduktion, oft ohne nennenswerten Kraftfuttereinsatz. Kühe werden nicht gemolken, sondern ziehen auf Grünland Kälber groß, deren Fleisch im Jungrindalter (6 bis 12 Monate) vermarktet wird.

Das Rind, ein Säugetier

Dass Kühe und Kälber gemeinsam gehalten werden, war aber auch auf ihrem Biohof keine Selbstverständlichkeit. Erst als Viktoria 2013 einheiratete, hinterfragte die gelernte Bürokauffrau, warum die Kälber nicht bei ihren Müttern bleiben. »Für mich als Quereinsteigerin in die Landwirtschaft war Das war schon immer so!‹ einfach keine akzeptable Antwort«, erinnert sich Hofbauer. Doch die Schwiegermutter stellte sich quer. Das bereits begonnene Projekt wurde rasch wieder abgebrochen, der Nachwuchs wieder von den Muttertieren getrennt. Erst als die Altbäuerin 2015 nicht nur auf dem Papier in Pension ging, sondern auch ins Ausgedinge übersiedelte, nahm Hofbauer ihr Herzensprojekt wieder auf.

»Mittlerweile geht es auch der Schwiegermutter gut damit und sie zeigt ihren Freundinnen stolz die bei ihren Müttern trinkenden Kälber«, sagt Hofbauer. Die Kälber trinken mittlerweile, wann und so viel sie wollen. Ihre Mütter werden trotzdem gemolken – geben aber nur die Milch, die der eigene Nachwuchs nicht braucht.

Mit »Elternzeit für unsere Kühe« bewirbt der Zusammenschluss »De Öko Melkburen« seine Produkte. Bild: De Öko Melkburen.

Kuhgebundene Kälberaufzucht
ist eine Haltungsform, die Milchkühe und Kälber mehrere Monate nach der Geburt beisammenlässt. Wird von mehreren Initiativen (etwa »Zeit zu zweit«) propagiert.
kuhpluskalb.de
bruderkalb.bio

Auch die männlichen Tiere bleiben als Ochsen zwei Jahre lang am Hof. Kein Kalb verlässt den Hof. Geschlachtet werden nur ausgewachsene Tiere. Das alles verursacht am Hof weniger Arbeit, denn die Kälber müssen nicht extra gefüttert werden und lernen im Herdenverband von ihren Müttern schnell, selbst Gras und Heu mitzufressen. Eine Unwägbarkeit bleibt allerdings: »Wir wissen nie genau, wie viel Milch wir nächste Woche zur Verfügung haben werden.« Im »Milch.KASino« vermarkten Hofbauer und ihr Mann aber ohnehin alle Milch und den daraus erzeugten Käse direkt.

Die Wissenschaft nennt die beschriebene Haltungsform »muttergebundene Kälberaufzucht«. Auf größeren Betrieben gibt es auch die »kuhgebundene Kälberaufzucht« – bei der nicht nur die unmittelbaren Mutterkühe säugen, sondern auch mehrere Kälber bei einer sogenannten Ammenkuh trinken können. Weshalb sich in der Forschung gerade die kuhgebundene Aufzucht als Überbegriff durchsetzt. Gesetzliche Regelungen gibt es weder für die eine noch für die andere Form.

Ammenkuh
ist eine Mutterkuh, die neben dem eigenen Kalb als Ersatzmutter auch (bis zu drei) weitere Kälber säugt.

Zwar sind beide Haltungsformen selten, doch das Interesse wächst merkbar. Das belegt auch die im Sommer 2021 abgeschlossene Studie »Milk & Calf«, in der das deutsche Thünen-Institut 60 deutsche Milchviehbetriebe und 120 VerbraucherInnen über Beweggründe und Methoden, Wissen und Kaufmotive befragte. »Die kuhgebundene Kälberaufzucht wird fast ausschließlich von Biobetrieben praktiziert. Die Hauptmotivation der LandwirtInnen liegt in der Verbesserung des Tierwohls und der Arbeitssituation«, heißt es im Abschlussbericht.

Kälber, die bei Müttern oder Ammen trinken dürfen, werden allgemein als gesünder und vitaler beschrieben. Der Herdenverband wird als intensiver erlebt. Dass die Kühe weniger Milch geben – ein Kalb trinkt je nach Alter bis zu 5 Mal täglich 2,5 bis 5 Liter –, wird durch das Wachstum der Kälber zumindest teilweise kompensiert. Denn die bis zu 1500 Kilo Milch, die eine Kuh deshalb weniger gibt, sind nicht verloren, sondern kommen dem Kalb zugute.

Unterschiedliche Kriterien und Labels

»Das sind die gesündesten, schönsten und wohlernährtesten Kälber, die man sich vorstellen kann«, berichtet auch Julia Kurz, Biobäuerin im niederösterreichischen Hürm. Auch sie ist Quereinsteigerin und wollte sich nicht damit abfinden, dass die Jungtiere von ihren Müttern getrennt werden. »Wir haben einfach das Türl zwischen den Kälbern und den Kühen aufgemacht und auch in unserem 30 Jahre alten Stall hat alles vom ersten Tag an funktioniert«, möchte Kurz andere Betriebe ermutigen, »es einfach auszuprobieren«. Dass die Arbeitsgruppe zum Thema muttergebundene Kälberaufzucht des Verbands Bio Austria mit jedem Treffen größer wird, freut sie sehr. »Ich möchte definitiv klarstellen, dass es unser eigener Wunsch war, die Kälber bei der Kuh zu lassen, und dass das nicht – wie in Fachzeitschriften dargestellt – nur auf Druck der KonsumentInnen passiert ist.« Auch Familie Kurz vermarktet ihre Erzeugnisse – Joghurt, Kräuteraufstrich, Milchreis – vor allem direkt. Auf den Produkten prangt neben dem EU-Bio-Logo ein Logo mit der Silhouette einer Kuh, vor der ein Kalb steht. Darunter wird, dezent, aber doch, auf die besondere Haltungsform hingewiesen. Das handhaben allerdings nicht alle Betriebe so. Gertraud Magritzer, Biobäuerin im niederösterreichischen Stössing (»Weinkirnhof«), berichtet, dass nur einzelne KundInnen, die ihre Milch ab Hof abholen, wirklich Bescheid wissen, welche Haltungsform sie durch ihren Einkauf ermöglichen. »Unser Hauptabnehmer ist die Molkerei Berglandmilch, von der unsere Milch zu Ja!-Natürlich-Produkten verarbeitet wird«, weiß Magritzer. »Hier gibt es keinen Hinweis auf muttergebundene Aufzucht.«

Familie Kurz vermarktet ihre Erzeugnisse vor allem direkt. Auf den Produkten prangt neben dem EU-Bio-Logo ein Logo mit der Silhouette einer Kuh, vor der ein Kalb steht. Bild: Familie Kurz.

Auch im Abschlussbericht der »Milk & Calf«-Studie wird darauf hingewiesen, dass nur ein Teil der engagierten Betriebe wirklich aktiv kommuniziert, wie die Tiere gehalten werden. Darin wird aber erwartet, dass zukünftig Produkte aus kuhgebundener Haltung im Handel häufiger zu finden sein werden: »Da viele Akteure ihre eigenen Kriterien und Label entwickeln, wird die Kommunikation nicht einheitlich ausfallen.« In Deutschland berichten die großen Bioverbände, dass sich bereits Edeka und Kaufland für solche Labels und Produkte interessieren, um ihre Tierwohlkampagnen glaubwürdig weiterzuentwickeln. In Baden-Württemberg führt Kaufland bereits in einigen Filialen testweise das Fleisch vom »Bruderkalb«, also von männlichen Kälbern, einiger ausgewählter Demeter- und Bioland-Milchviehbetriebe.

Auch in Österreich beobachtet man die Entwicklung interessiert. »Wir nehmen wahr, dass sich einige Biobäuerinnen und Biobauern sehr ernsthaft mit dem Thema kuhgebundene Kälberaufzucht beschäftigen«, sagt Andreas Steidl, Geschäftsführer von Ja! Natürlich, der österreichischen Rewe-Bioeigenmarke. »Aber Hunderte Höfe und Stall- und Fütterungssysteme umzustellen, das ist nicht leicht. Wir beobachten die engagierten Einzelprojekte, wollen aber nichts Halbherziges überstülpen.« Was wohl heißt: Noch gibt es unter den eigenen LieferantInnen zu wenige Betriebe, als dass sich diese Haltungsform glaubwürdig im großen Stil hinausposaunen ließe.

Ihren Gästen gegenüber muss Biobäuerin Viktoria Hofbauer einstweilen tief Luft holen, bevor sie in einem Atemzug sagen kann, was diese im »Milch.KASino« geboten bekommen: »Bioheurohmilch von behornten, silagefrei und kraftfutterfrei gefütterten Kühen mit Weidegang aus muttergebundener Kälberaufzucht ohne Spaltenboden«. Ebenfalls außergewöhnlich: Geschlachtet werden die Tiere gleich in der Ortschaft. Wären da überhaupt noch weitere Verbesserungen möglich? »Ja«, seufzt die Bäuerin, »Gottfrieds großer Traum, der Natursprung«. Um den Tieren auch das Ausleben ihres Sexualtriebs zu ermöglichen, bräuchte es allerdings noch einen Stallumbau und ein weiteres Tier in der Herde. »Da käme dann nicht mehr der Tierarzt mit seinem Spermaröhrchen zur künstlichen Besamung, sondern es gibt einen Stier, der das erledigt, der aber alle drei Jahre gewechselt werden muss, damit es in der Herde nicht zu Inzucht kommt.« Ein mächtiger Stier hinterm Elektrozaun, ist anzunehmen, spränge dann auch den meisten BesucherInnen sofort ins Auge.

BIORAMA #78

Dieser Artikel ist im BIORAMA #78 erschienen

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